Mittwoch, 15. September 2021

Stille

 

Reizwörter: Geraschel, Knall, muffig, rot, flüstern

Bitte lest auch bei Regina und Lore!


„Könntest du später meinen Anzug aus der Reinigung holen? Und warte heute Abend nicht auf mich. Keine Ahnung, wie lange die Sitzung dauert.“

Ohne meine Antwort darauf abzuwarten und mit einem hektischen Blick auf seine Armbanduhr verlässt mein Mann schnellen Schrittes die Küche. Obwohl ich weiß, was jetzt kommt, zucke ich zusammen. Wieder einmal fällt die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Wieder einmal ist er spät dran und wieder einmal hat er keine Zeit für einen Abschiedskuss oder eine liebevolle Umarmung. Was bleibt, ist Stille. Keine unerträgliche Stille, sondern eine schöne, ruhige Stille.

Für einen Moment schließe ich die Augen und lausche: dem Ticken der Uhr, dem Surren des Kühlschranks. Anschließend greife ich nach meinem roten Kaffeebecher und trete aus der Terrassentür hinaus in den Garten. Auch hier umgibt mich eine gewisse Stille. Nur die leisen Töne der Natur nehme ich wahr: das Geraschel der Blätter eines Baumes, den Ruf eines Falken über mir.

Eine Schnecke bahnt sich ihren Weg durch das noch feuchte Gras und es scheint mir, als flüstere sie mir zu: halte inne, mach langsam, schließe dich dem Rhythmus der Natur an, dem Flügelschlag des Falken, dem Fließen des Wassers. Folge dem Rhythmus der Jahreszeiten.

Ich sehe mich weiter um und erkenne deutliche Anzeichen für den nahenden Herbst. Der schwarze Holunder ist reif für die Ernte, die Birnen, Zwetschgen. Die Natur weiß, wann es Zeit ist, Früchte zu bilden und reifen zu lassen und sie bereitet sich zur rechten Zeit auf die Winterruhe vor. – Und das alles ganz ohne Kalender. Sie braucht auch kein Handy, das sie an einen Termin erinnert und keine To-do-Liste. Die Zugvögel wissen aus ihrem Instinkt heraus, wann es Zeit ist, die Reise in den Süden anzutreten.

Wieder schließe ich für einen Moment meine Augen, achte auf den Schlag meines Herzens. Ja, auch wir Menschen folgen einem ganz natürlichen Rhythmus. Auch wir wachsen, blühen, tragen Früchte und kommen zur Ruhe. Doch in unserem Alltag scheint nicht mehr viel von diesem Rhythmus übrig geblieben zu sein. Wir werden viel zu oft abgelenkt, sind ständig erreichbar, nehmen uns kaum Auszeiten, um innezuhalten und zur Ruhe zu kommen. Vielleicht ist gar nicht unser Hab und Gut unser größter Luxus, sondern die Stille.

Als ich zu frösteln beginne, gehe ich zurück ins Haus. Heute habe ich frei, muss nicht ins Büro und nicht über muffig riechenden Akten brüten. Dieses Geschenk nehme ich gerne und dankbar an.

Anstatt, wie sonst, das Radio anzustellen und meiner Hausarbeit nachzugehen, suche ich mir ein gemütliches Plätzchen, nehme mir eine Wolldecke und kuschele mich ein. Heute möchte ich mir den Luxus der Stille gönnen.

Ich lausche wieder dem Rhythmus meines Herzens, nehme meinen Atem bewusst wahr und komme nach einer Weile auch im Inneren zur Ruhe. Doch diese Ruhe währt nicht lange: ist es in Ordnung, jetzt hier zu sitzen und nur zu ‚sein‘? Ich muss doch noch … Nein, beruhige ich meinen Geist, ich muss nicht. Es ist genug Zeit da, um meine Aufgaben zu erledigen. Jetzt darf ich die Stille genießen.

Doch es gelingt mir nur für einen kurzen Moment. Meine Gedanken melden sich immer lauter zu Wort. Sie kreisen um viele Themen, wollen mich wegbringen von der Stille, mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Doch ich versuche, ihnen nicht nachzugeben, versuche so still wie möglich nur einfach dazusitzen. Nicht mehr. Nur das.

Mein Handy meldet den Eingang einer Nachricht. Könnte dringend sein. Vielleicht meine Mutter. Sie weiß, dass ich heute einen freien Tag habe. Bestimmt macht sie sich Sorgen, wenn ich nicht gleich reagiere.

Schon will ich aufstehen, verharre jedoch in der Bewegung und setze mich wieder hin. Nein, jetzt nicht. Jetzt bleibe ich in der Stille.

Und wenn es doch wichtig ist?

In meinem Geiste sehe ich meine Mutter blutüberströmt auf einer Bahre liegen. Die letzten Worte, die sie an mich richten wollte, werden mich nicht mehr erreichen, weil ich ihre Nachricht nicht rechtzeitig gelesen habe.

Ich springe auf und greife hastig nach meinem Handy. Die Nachricht ist belanglos. - Aber es hätte ja etwas Wichtiges sein können.

Mechanisch lege ich meine Wolldecke zusammen, nehme ein Glas vom Tisch, das von gestern Abend dort noch stehen geblieben ist und wende mich meiner Hausarbeit zu.

Das Radio stelle ich nicht an. So bleibt es wenigstens im Außen still. Doch in meinem Inneren kann ich diese Stille an diesem Morgen nicht mehr finden.

©  Martina Pfannenschmidt, 2021



Diese Geschichte nimmt an Elkes 'froher und kreativer Linkparty' teil.

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2 Kommentare:

  1. Liebe Martina,
    genau zur rechten Zeit kommt deine Geschichte heute für mich, aus der ich eines mitnehme: Ich darf mir eine Ruheinsel gönnen und einfach mal ICH sein, das Telefon klingeln lassen und alle Fünfe gerade sein lassen. Mach ich jetzt - sofort!
    Danke und viele liebe Grüße zu dir
    Regina

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    1. Liebe Regina, ich gehe jetzt ganz leise und auf Zehenspitzen wieder von hier fort, um dich ja nicht zu stören. - Danke für deinen Besuch. LG Martina

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