Reizwörter: Geraschel, Knall, muffig, rot, flüstern
Bitte lest auch bei Regina und Lore!
„Könntest du später meinen Anzug aus der
Reinigung holen? Und warte heute Abend
nicht auf mich. Keine Ahnung, wie lange die Sitzung dauert.“
Ohne meine Antwort darauf abzuwarten und mit einem
hektischen Blick auf seine Armbanduhr verlässt mein Mann schnellen Schrittes
die Küche. Obwohl ich weiß, was jetzt kommt, zucke ich zusammen. Wieder einmal
fällt die Tür mit einem lauten Knall
ins Schloss. Wieder einmal ist er spät dran und wieder einmal hat er keine Zeit
für einen Abschiedskuss oder eine liebevolle Umarmung. Was bleibt, ist Stille.
Keine unerträgliche Stille, sondern eine schöne, ruhige Stille.
Für einen Moment schließe ich die Augen und
lausche: dem Ticken der Uhr, dem Surren des Kühlschranks. Anschließend greife
ich nach meinem roten
Kaffeebecher und trete aus der Terrassentür hinaus in den Garten. Auch hier
umgibt mich eine gewisse Stille. Nur die leisen Töne der Natur nehme ich wahr:
das Geraschel der Blätter
eines Baumes, den Ruf eines Falken über mir.
Eine Schnecke bahnt sich ihren Weg durch das noch
feuchte Gras und es scheint mir, als flüstere
sie mir zu: halte inne, mach langsam, schließe dich dem Rhythmus der Natur an,
dem Flügelschlag des Falken, dem Fließen des Wassers. Folge dem Rhythmus der
Jahreszeiten.
Ich sehe mich weiter um und erkenne deutliche
Anzeichen für den nahenden Herbst. Der schwarze Holunder ist reif für die
Ernte, die Birnen, Zwetschgen. Die Natur weiß, wann es Zeit ist, Früchte zu
bilden und reifen zu lassen und sie bereitet sich zur rechten Zeit auf die
Winterruhe vor. – Und das alles ganz ohne Kalender. Sie braucht auch kein
Handy, das sie an einen Termin erinnert und keine To-do-Liste. Die Zugvögel
wissen aus ihrem Instinkt heraus, wann es Zeit ist, die Reise in den Süden
anzutreten.
Wieder schließe ich für einen Moment meine Augen,
achte auf den Schlag meines Herzens. Ja, auch wir Menschen folgen einem ganz
natürlichen Rhythmus. Auch wir wachsen, blühen, tragen Früchte und kommen zur
Ruhe. Doch in unserem Alltag scheint nicht mehr viel von diesem Rhythmus übrig
geblieben zu sein. Wir werden viel zu oft abgelenkt, sind ständig erreichbar,
nehmen uns kaum Auszeiten, um innezuhalten und zur Ruhe zu kommen. Vielleicht
ist gar nicht unser Hab und Gut unser größter Luxus, sondern die Stille.
Als ich zu frösteln beginne, gehe ich zurück ins
Haus. Heute habe ich frei, muss nicht ins Büro und nicht über muffig riechenden Akten brüten.
Dieses Geschenk nehme ich gerne und dankbar an.
Anstatt, wie sonst, das Radio anzustellen und
meiner Hausarbeit nachzugehen, suche ich mir ein gemütliches Plätzchen, nehme
mir eine Wolldecke und kuschele mich ein. Heute möchte ich mir den Luxus der
Stille gönnen.
Ich lausche wieder dem Rhythmus meines Herzens,
nehme meinen Atem bewusst wahr und komme nach einer Weile auch im Inneren zur
Ruhe. Doch diese Ruhe währt nicht lange: ist es in Ordnung, jetzt hier zu
sitzen und nur zu ‚sein‘? Ich muss doch noch … Nein, beruhige ich meinen Geist,
ich muss nicht. Es ist genug Zeit da, um meine Aufgaben zu erledigen. Jetzt
darf ich die Stille genießen.
Doch es gelingt mir nur für einen kurzen Moment.
Meine Gedanken melden sich immer lauter zu Wort. Sie kreisen um viele Themen,
wollen mich wegbringen von der Stille, mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Doch
ich versuche, ihnen nicht nachzugeben, versuche so still wie möglich nur
einfach dazusitzen. Nicht mehr. Nur das.
Mein Handy meldet den Eingang einer Nachricht.
Könnte dringend sein. Vielleicht meine Mutter. Sie weiß, dass ich heute einen
freien Tag habe. Bestimmt macht sie sich Sorgen, wenn ich nicht gleich
reagiere.
Schon will ich aufstehen, verharre jedoch in der
Bewegung und setze mich wieder hin. Nein, jetzt nicht. Jetzt bleibe ich in der
Stille.
Und wenn es doch wichtig ist?
In meinem Geiste sehe ich meine Mutter
blutüberströmt auf einer Bahre liegen. Die letzten Worte, die sie an mich
richten wollte, werden mich nicht mehr erreichen, weil ich ihre Nachricht nicht
rechtzeitig gelesen habe.
Ich springe auf und greife hastig nach meinem
Handy. Die Nachricht ist belanglos. - Aber es hätte ja etwas Wichtiges sein können.
Mechanisch lege ich meine Wolldecke zusammen,
nehme ein Glas vom Tisch, das von gestern Abend dort noch stehen geblieben ist
und wende mich meiner Hausarbeit zu.
Das Radio stelle ich nicht an. So bleibt es
wenigstens im Außen still. Doch in meinem Inneren kann ich diese Stille an diesem Morgen
nicht mehr finden.
© Martina Pfannenschmidt, 2021
Diese Geschichte nimmt an Elkes 'froher und kreativer Linkparty' teil.
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Liebe Martina,
AntwortenLöschengenau zur rechten Zeit kommt deine Geschichte heute für mich, aus der ich eines mitnehme: Ich darf mir eine Ruheinsel gönnen und einfach mal ICH sein, das Telefon klingeln lassen und alle Fünfe gerade sein lassen. Mach ich jetzt - sofort!
Danke und viele liebe Grüße zu dir
Regina
Liebe Regina, ich gehe jetzt ganz leise und auf Zehenspitzen wieder von hier fort, um dich ja nicht zu stören. - Danke für deinen Besuch. LG Martina
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