Freitag, 15. November 2019

Ich bin ein wertvoller Mensch!


Reizwörter: Regenhut, Pfütze, verzeihen, lustig, orange

Bei Lore und Regina lest ihr weitere Geschichten
mit diesen Reizwörtern.


Leise klopft der Regen auf das Dachfenster über mir, durch das ein wenig Licht auf mein Buch fällt.
Ich schaue auf und erinnere mich an die Worte meiner Mutter: „Kind, mach dir doch Licht an. Das ist nicht gut für deine Augen, wenn du im Halbdunklen liest.“
Ein Schmunzeln umspielt meine Lippen, als ich das Buch auf das kleine Tischchen neben mir lege, um den Lichtschalter zu betätigen.
Anschließend gehe ich in die Küche, um mir einen Tee zuzubereiten.
Während ich darauf warte, dass das Wasser kocht, schaue ich aus dem Fenster und erblicke Lotta, das Nachbarmädchen. Es steht in der Haustür gegenüber und schaut, wie ich, hinaus in den Regen.
Doch dann verschwindet sie kurz, um bald darauf mit einer Regenjacke in einem leuchtenden Orange und einem kecken Regenhut auf dem Kopf aus dem Haus zu stürmen. Es dauert nicht lange und sie hüpft mit ihren bunten Gummistiefeln in die erste große Pfütze, die sich ihr in den Weg stellt. Welch ein Glück für Lotta, dass niemand da ist, den das stört und der ihren kindlichen Tatendrang unterbindet.
Wie gut, dass der frühere Hausmeister meiner Schule sie nicht sieht, geht mir durch den Kopf. Er würde gewiss mit ihr schimpfen. Ich weiß nicht, was es ist, dass diesen Mann so hartherzig hat werden lassen. Früher habe ich mir darüber gar keine Gedanken gemacht, doch heute frage ich mich, ob er vielleicht eine schwierige Kindheit hatte, die ihn für sein Leben geprägt hat. - Vielleicht war er kein Wunschkind, so wie es Lotta ist.
Jemand sagte einmal: „Augen auf bei der Wahl der Eltern!“
So lustig dieser Satz auch klingen mag, soviel Wahrheit steckt in ihm.
Ich denke daran, wie viele Paare es gibt, die versuchen, ihre Ehe durch ein Kind zu retten. Mit welch einer Bürde werden diese Kinder bereits geboren.
Während ich so darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass eigentlich schon im Moment der Befruchtung die unterschiedlichsten Bedingungen für die Kinder zugrunde liegen und ich frage mich, was das mit einem Kind macht, wenn es spürt, dass es nicht gewollt ist.
Und was macht es mit einem Kind, wenn der Vater gewalttätig ist? Kann es ihm dies jemals verzeihen?
Ob Kinder in den ersten Lebensjahren Nähe oder Distanz erleben, das ist für ihren späteren Lebensweg ganz sicher von größter Bedeutung.
Und so frage ich mich in diesem Augenblick, was das mit einem Kind macht, wenn die Mutter alkoholsüchtig oder depressiv ist und was macht es mit ihm, wenn sie sich ständig überfordert fühlt?
Was macht eine Scheidung mit einem Kind, wenn Konflikte vorangingen und man von ihm erwartete, dass es sich für einen Elternteil entscheidet?
Von all diesen Gedanken, die gerade durch meinen Kopf gehen, weiß Lotta nichts – und das ist gut so. In ihrer Familie wird noch gemeinsam gegessen, gespielt, gesprochen und vielleicht auch mal gestritten, aber sie kennt keine Gewalt oder eine kühle Distanz.
Ihr stehen noch freie Flächen zum Spielen zur Verfügung und sie muss sich nicht notgedrungen in Innenräumen und Medienwelten aufhalten. Sie darf ihr Kind sein noch voll ausleben – und das tut sie auch.
Ich denke daran, wie eng meine Bindung zu meinen Eltern ist. Eine emotionale Bindung, die mich geprägt und bindungsfähig gemacht hat. Vielen Menschen fällt gerade das schwer. Sie sehnen sich zwar nach Nähe, doch wenn sie entsteht, ziehen sie sich zurück.
Sie sind unzufrieden in ihren Beziehungen, weil sie sich stets als Gebende fühlen. Sie werden das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, vielleicht ein Leben lang nicht ablegen können.
Wie schade, wenn man niemals das Gefühl hat, wertvoll zu sein.
Doch was ist es, das mich wertvoll macht und wer ist für mich wertvoll?
In diesem Moment ist Lotta wertvoll für mich, denn sie erfreut mich in ihrer kindlichen Art und lenkt meine Gedanken.
Es ist aber auch der Bäcker an der Ecke, bei dem ich jeden Morgen meine frischen Brötchen kaufen kann. Doch nicht nur er ist für mich wertvoll, sondern ich – einfach alle Kunden – sind es für ihn ebenso, denn sie sichern ihm sein Einkommen.
So viele Menschen sind wertvoll für mich, auch wenn ich niemals eine engere Beziehung zu ihnen aufbauen werde und mir wird bewusst, dass ich noch nie wirklich darüber nachgedacht habe, wie viele Menschen für mich wertvoll sind.
Ich denke an den Busfahrer, der mich morgens sicher zur Arbeit bringt, die Männer vom Müll, die nette Dame aus dem Bürgerbüro, den Fahrer des Schneemobils, den Postboten, meinen Physiotherapeuten ...
Und dann sind da natürlich noch all die Menschen, zu denen ich eine ganz besonders nahe Bindung habe: Meine Familie, Freunde. In diesem Fall bin ich dann für den jeweils anderen wohl ebenso wertvoll.
Es ist schön, zu wissen, das es Menschen gibt, für die man wertvoll ist, die gerne die Zeit mit uns verbringen und denen wir fehlen würden, wenn wir plötzlich nicht mehr da wären!
Ich habe einen Wert für andere. Ich bin wertvoll für einen anderen Menschen, allein dadurch, dass ich gemeinsame Zeit mit ihm verbringe.
Das ist ein großartiges Gefühl, zu erkennen, dass nicht nur andere Menschen für mich wertvoll sind, sondern ich auch für sie.
Doch was ist mit den Menschen, zu denen ich keine gute Bindung aufbauen kann, weil sie mir einfach nicht entsprechen oder weil sie mir bewusst oder unbewusst Leid zugefügt haben? Sind sie wertlos für mich?
Das ist ganz sicher ein Trugschluss, so zu denken, denn auch diese Menschen sind wertvoll für mich, da sie mich durch ihr Verhalten geprägt und zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin.
Als ich mit einer dampfenden Tasse Tee zurück kehre zu meinem Buch, fühle ich mich richtig gut, weil ich das Gefühl in mir trage, dass jeder Mensch wertvoll ist. - Also bin auch ich ein wertvoller Mensch!

© Martina Pfannenschmidt, 2019



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13 Kommentare:

  1. Martina mein kleiner Philosoph, eine schöne Betrachtung, die mich zum Nachdenken anregte. Jeder Mensch der uns begegnet ist wertvoll sowohl im positiven als auch im negativen, denn sie helfen uns selbst ein wertvoller Mensch zu werden.
    Wünsche dir ein schönes Wochenende, Lore

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    1. Danke, Lore! Du hast meine Gedanken in einem Satz zusammen gefasst. Großartig! :-) - LG Martina

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  2. Liebe Martina,
    ich stimme Lore zu, es sind philosophische Gedanken, die du heute "verarbeitet" hast. Es tut gut, einmal darüber nachzudenken, über den Wert der anderen und über den eigenen Wert. Über unsere Beziehungen und über das, was uns prägt im positiven, wie auch im negativen Sinne!
    Danke für diese anregenden Gedanken
    und liebe Grüße
    Regina

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    1. Liebe Regina, wenn ich es geschafft habe, dich zum Nachdenken über deinen eigenen Wert zu bringen, hab ich vieles richtig gemacht! - Danke für den Kommentar und liebe Grüße! Martina

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  3. Antworten
    1. Danke für deinen Besuch und auch dafür, dass du einen Kommentar hinterlassen hast! LG Martina

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  4. Liebe Martina,
    du bist auch ein ganz besonders wertvoller Mensch für mich 😊 Danke für den Link!
    LG Elke

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    1. Liebe Elke, dein Kommentar hat mich sehr berührt. Danke! LG Martina

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  5. eine sehr schöne Geschichte ..
    aber ich glaube .. zu erst muss man sich selber etwas wert sein..
    dann kann man es besser aushalten wenn Andere versuchen einem den "Wert"
    abspenstig zu machen..
    du bist nichts.. du kannst nichts.. du bist dumm
    wenn ich in mir weiß dass ich etwas wert bin kann ich diese Bemerkungen verkraften
    ich denke auch .. jeder ist jemandem etwas wert

    liebe Grüße
    Rosi

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    1. Liebe Rosi, Sätze wie: Du kannst nichts, bist dumm usw. sind einfach furchtbar. Eltern wissen vielleicht gar nicht, was sie damit anrichten oder es ist ihnen schlichtweg egal. Und gerade Kindern fehlt noch dieses Selbstwertgefühl - gerade dann, wenn man es ihnen nicht vermittelt. - Die Kinder nehmen einen 'Schaden' durch derartige Äußerungen, die sie vielleicht ein Leben lang mit sich herum tragen. - Danke für deinen Kommentar und deine Gedanken! Martina

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  6. Liebe Martina,
    endlich habe ich es geschafft, Deine neue, wundervolle Geschichte zu lesen! Herzlichen Dank dafür!
    Ich wünsche Dir einen schönen und freundlichen Wochenteiler!
    ♥️ Allerliebste Grüße, Claudia ♥️

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    1. Liebe Claudia, Danke, dass du es dir trotz deiner begrenzten Zeit nicht hast nehmen lassen, auch noch einen Kommentar zu hinterlassen! Vielen Dank und ganz liebe Grüße zurück! Martina

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  7. den Wert eines einzelenen für sich zu erkenen und gleichzeitig den eigenen Wert zu ° spüren und an ihnzu glauben°* welch gedanken, sowertvoll so selten dass se so jemand äußern und formulieren kann dass sie sich tief einprägen.
    ich schreibe aus dem Bauch heraus gleichzeitig kommen mir aber die Tränen weil ich spüre wie recht du damit hast!....wouw...du triffst echt den Nagel auf den Kopf mit dem Wort selbstwertgefühl fängt es nämlich an und begleitet uns durch unser ganzes Leben.
    es nicht von Anfang an - unbewusst oder nicht, es nicht bekommen zu haben schädigt das Gemüt, die gesunde Einstellung zum Leben, der Natur und den Menschen um dich herum und überall...
    was " einem * Wert sein° ja , das muss man spüren können sonst kann man sich selbst nicht gut fühlen, denn man grenzt sich selbst ein wenn man den eigenen Wert nicht spürt, erkennt und lebt.
    dass der andere einem ewas wert ist, kann man, muss man ihm sagen wenn er es nicht spürt, denn leider sind wir Menschen oft schon so abgestumpft und selbstsicher überheblich, angeblich in Nichts zu toppen, dass wir auf anderes - wie Äußeres mehr Wert als auf das Innere legen, das bedeutend mehr Gewicht für den Menschen hat.
    ein gutes, ein tolles, ein gewichtiges Thema, dass sich einige viele an die Brust nehmen und darüber naczudenken hätten, wenn sie sich dessen bewusst wären °was° einen Wert für sie hat.
    ich kann dir nur danken, dass du es heute so gut und deutlich /gewichtig bearbeitet hast...
    angelface

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