„Sag
mal, was veranstaltet unsere Tochter da eigentlich? Übt sie wieder diesen
Zahnstochertanz?“, fragte Jens und grinste dabei über das ganze Gesicht.
Britta
sah von ihrem Buch auf und beobachtete ebenfalls das Treiben ihres Kindes, das
sich weiter hinten im Garten aufhielt.
„Also
erstens heißt es Zahnseide-Tanz“, berichtigte sie ihren Mann, „und zweitens ist
er es definitiv nicht. Es ist ein Tanz, ja, aber … Mäuschen, übst du neue
Tanzschritte ein?“, rief sie fragend ihrer Tochter zu.
Mia
kam angerannt und erzählte stolz und mit
hochroten Wangen: „Ich habe mir vorhin ein Video angesehen und jetzt übe ich den
Regentanz.“
„Aha!“
Papa konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, so dass Britta ihm mit ihrem
Ellenbogen heftig in die Seite stieß.
„Schaut
euch doch nur mal den Rasen an“, bat Mia, „der ist doch total verbrannt und
alle Bäume haben Durst und die Tiere auch.“ Dabei zeigte sie auf die große
Vogeltränke, auf deren Rand sich mehrere Spatzen befanden, die immer wieder
ihre kleinen Köpfchen senkten, um an das kostbare Wasser zu gelangen, das sich
darin befand.
Britta
bestätigte ihre Tochter in ihrem Tun: „Das find ich toll, dass du um Regen
bittest. Da tust du ein wirklich gutes Werk. Wir brauchen ihn so dringend und da
es bisher keinen einzigen Regenschauer in unserem Urlaub gab, darf es ruhig mal
einen Regentag geben, oder denkt ihr nicht?“
Das
Mädchen nickte und hüpfte freudestrahlend zurück an seinen Platz in den
Schatten des großen Baumes, um seinen Tanz fortzusetzen.
„Also
ehrlich, mir fehlt der Regen nicht“, meinte Jens in diesem Moment. „Ich komme ganz
gut ohne ihn klar.“
Britta
wurde sauer: „Ja klar, wir haben ja auch kaltes Wasser und jede Menge Bier
vorrätig. Außerdem können wir uns unter die Brause im Garten stellen und abends
unter die Dusche. Doch stell dir mal vor, das Wasser würde komplett versiegen.
Wie lange könnten wir dann noch leben? Also deine Einstellung dazu verstehe ich
nicht.“
„War
ja nicht so gemeint“, sagte Jens schnell und gab seiner Frau einen Kuss auf
die Wange. „Lieber einen Regentag im Urlaub, als Stress mit dir“, meinte er
versöhnlich.
Dann
wandte er sich wieder ab und löste weitere Rätsel in seinem Block.
Britta
beobachtete ihre Tochter noch eine ganze Weile und dachte darüber nach, dass
Kinder, anders als die Erwachsenen, viel spontaner und freier erscheinen.
Doch
was bedeutete es eigentlich, frei zu sein?
Vielleicht
haben wir alle viel mehr Freiheiten, als uns im ersten Moment bewusst ist, ging
ihr durch den Kopf. Wir halten vieles für selbstverständlich und wissen manche
Dinge gar nicht mehr zu schätzen. Vielleicht würden uns einige unserer
Freiheiten erst wieder bewusst, würde man sie uns nehmen.
Denn
ist es nicht so, dass wir dann, wenn wir das Glück haben, in Deutschland
geboren worden zu sein, zum Beispiel die Freiheit haben, dorthin reisen zu dürfen,
wohin wir wollen? Egal ob nun nach Afrika, Australien oder nach Kanada. Wir
besorgen uns einen Reisepass, für einige Länder ein Visum und schon können wir an jeden Ort reisen. Die Welt steht uns offen. Die Freiheit, dies zu tun,
haben wir, ohne das wir etwas dafür getan haben. Es wurde uns einfach in die
Wiege gelegt.
Britta
dachte darüber nach, dass wir in unserer eigenen Geschichte gar nicht so weit
zurückgehen müssen, um zu wissen, dass einigen von uns diese Freiheit vor noch
gar nicht so langer Zeit nicht zuteil war. Die Menschen im Osten unseres Landes waren eingeschränkt in der Wahl
der Länder, die sie bereisen durften. Besaßen diese Freiheit nicht.
Britta
sah ihren Mann an. Sie waren in ihrer Entscheidung, sich näher kennen
zu lernen und später zu heiraten, frei gewesen. Bis heute gibt es Länder, in
denen die Menschen diese Art der Freiheit nicht haben. Ist uns das überhaupt
bewusst?
Wir
durften und dürfen eine Schule besuchen. Wir dürfen lernen, ohne dafür zu
bezahlen. Egal, ob arm oder reich, egal ob Junge oder Mädchen. Empfinden wir
das überhaupt als Freiheit und sind dankbar dafür? Vielleicht würden wir erst
in dem Moment, wo man uns dies alles nimmt, merken, wie wertvoll diese
Freiheiten für uns sind.
Wenn
wir gesund sind, so dachte sie, uns bewegen, klettern oder tanzen können, ist
auch dies eine Art von Freiheit, die uns erst bewusst wird, wenn man sie uns
nimmt.
Wir
sind frei in unserem Denken. Wir sind frei in unserem Glauben. Wir dürfen
hinterfragen, unsere Meinung kundtun und diskutieren.
All
diese Freiheiten genießen wir allein nur durch die Tatsache, in diesem Land geboren
worden zu sein.
Britta
wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie in der Ferne ein Donnergrollen
vernahm und erste dicke Regentropfen vom Himmel fielen.
Der Jubelschrei, der von Mia kam, war nicht zu überhören.
„Seht
nur“, rief sie und hörte nicht auf, sich im warmen Regen zu drehen. „Es
regnet! Endlich! Es regnet!“
©
Martina Pfannenschmidt, 2018