Samstag, 11. August 2018

Regentanz


„Sag mal, was veranstaltet unsere Tochter da eigentlich? Übt sie wieder diesen Zahnstochertanz?“, fragte Jens und grinste dabei über das ganze Gesicht.
Britta sah von ihrem Buch auf und beobachtete ebenfalls das Treiben ihres Kindes, das sich weiter hinten im Garten aufhielt.
„Also erstens heißt es Zahnseide-Tanz“, berichtigte sie ihren Mann, „und zweitens ist er es definitiv nicht. Es ist ein Tanz, ja, aber … Mäuschen, übst du neue Tanzschritte ein?“, rief sie fragend ihrer Tochter zu.
Mia kam angerannt und erzählte stolz und  mit hochroten Wangen: „Ich habe mir vorhin ein Video angesehen und jetzt übe ich den Regentanz.“
„Aha!“ Papa konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, so dass Britta ihm mit ihrem Ellenbogen heftig in die Seite stieß.
„Schaut euch doch nur mal den Rasen an“, bat Mia, „der ist doch total verbrannt und alle Bäume haben Durst und die Tiere auch.“ Dabei zeigte sie auf die große Vogeltränke, auf deren Rand sich mehrere Spatzen befanden, die immer wieder ihre kleinen Köpfchen senkten, um an das kostbare Wasser zu gelangen, das sich darin befand.
Britta bestätigte ihre Tochter in ihrem Tun: „Das find ich toll, dass du um Regen bittest. Da tust du ein wirklich gutes Werk. Wir brauchen ihn so dringend und da es bisher keinen einzigen Regenschauer in unserem Urlaub gab, darf es ruhig mal einen Regentag geben, oder denkt ihr nicht?“
Das Mädchen nickte und hüpfte freudestrahlend zurück an seinen Platz in den Schatten des großen Baumes, um seinen Tanz fortzusetzen.
„Also ehrlich, mir fehlt der Regen nicht“, meinte Jens in diesem Moment. „Ich komme ganz gut ohne ihn klar.“
Britta wurde sauer: „Ja klar, wir haben ja auch kaltes Wasser und jede Menge Bier vorrätig. Außerdem können wir uns unter die Brause im Garten stellen und abends unter die Dusche. Doch stell dir mal vor, das Wasser würde komplett versiegen. Wie lange könnten wir dann noch leben? Also deine Einstellung dazu verstehe ich nicht.“
„War ja nicht so gemeint“, sagte Jens schnell und gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. „Lieber einen Regentag im Urlaub, als Stress mit dir“, meinte er versöhnlich.
Dann wandte er sich wieder ab und löste weitere Rätsel in seinem Block.
Britta beobachtete ihre Tochter noch eine ganze Weile und dachte darüber nach, dass Kinder, anders als die Erwachsenen, viel spontaner und freier erscheinen.
Doch was bedeutete es eigentlich, frei zu sein?
Vielleicht haben wir alle viel mehr Freiheiten, als uns im ersten Moment bewusst ist, ging ihr durch den Kopf. Wir halten vieles für selbstverständlich und wissen manche Dinge gar nicht mehr zu schätzen. Vielleicht würden uns einige unserer Freiheiten erst wieder bewusst, würde man sie uns nehmen.
Denn ist es nicht so, dass wir dann, wenn wir das Glück haben, in Deutschland geboren worden zu sein, zum Beispiel die Freiheit haben, dorthin reisen zu dürfen, wohin wir wollen? Egal ob nun nach Afrika, Australien oder nach Kanada. Wir besorgen uns einen Reisepass, für einige Länder ein Visum und schon können wir an jeden Ort reisen. Die Welt steht uns offen. Die Freiheit, dies zu tun, haben wir, ohne das wir etwas dafür getan haben. Es wurde uns einfach in die Wiege gelegt.
Britta dachte darüber nach, dass wir in unserer eigenen Geschichte gar nicht so weit zurückgehen müssen, um zu wissen, dass einigen von uns diese Freiheit vor noch gar nicht so langer Zeit nicht zuteil war. Die Menschen im Osten unseres Landes waren eingeschränkt in der Wahl der Länder, die sie bereisen durften. Besaßen diese Freiheit nicht.
Britta sah ihren Mann an. Sie waren in ihrer Entscheidung, sich näher kennen zu lernen und später zu heiraten, frei gewesen. Bis heute gibt es Länder, in denen die Menschen diese Art der Freiheit nicht haben. Ist uns das überhaupt bewusst?
Wir durften und dürfen eine Schule besuchen. Wir dürfen lernen, ohne dafür zu bezahlen. Egal, ob arm oder reich, egal ob Junge oder Mädchen. Empfinden wir das überhaupt als Freiheit und sind dankbar dafür? Vielleicht würden wir erst in dem Moment, wo man uns dies alles nimmt, merken, wie wertvoll diese Freiheiten für uns sind.
Wenn wir gesund sind, so dachte sie, uns bewegen, klettern oder tanzen können, ist auch dies eine Art von Freiheit, die uns erst bewusst wird, wenn man sie uns nimmt.
Wir sind frei in unserem Denken. Wir sind frei in unserem Glauben. Wir dürfen hinterfragen, unsere Meinung kundtun und diskutieren.
All diese Freiheiten genießen wir allein nur durch die Tatsache, in diesem Land geboren worden zu sein. 
Britta wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie in der Ferne ein Donnergrollen vernahm und erste dicke Regentropfen vom Himmel fielen.
Der Jubelschrei, der von Mia kam, war nicht zu überhören.
„Seht nur“, rief sie und hörte nicht auf, sich im warmen Regen zu drehen. „Es regnet! Endlich! Es regnet!“

© Martina Pfannenschmidt, 2018