Freitag, 23. März 2018

Glückskinder

Heimlich strickte Hanna an einem kleinen rosa Jäckchen, so, wie sie es früher schon für ihre Tochter getan hatte. Dazu gehörte noch eine passende Mütze und fertig war die Ausfahrgarnitur. Ob man diesen Ausdruck heute überhaupt noch benutzte? Egal! Hanna freute sich riesig auf ihr erstes Enkelkind und die zukünftige Mama hoffentlich über diese Handarbeiten.
Als die Haustür aufgeschlossen wurde, versteckte sie das Jäckchen rasch in ihrem Handarbeitskorb. Einen Moment später lugte Nadine durch die Tür. „Störe ich, oder trinkst du mit mir einen Kaffee?“
„Natürlich störst du nicht“, erwiderte Hanna und erhob sich aus ihrem Sessel. „Klar koche ich uns einen Kaffee. Ich freue mich doch über deinen Besuch.“
„Wie du weißt, bin ich jetzt im Mutterschutz und deshalb werde ich dich wohl häufiger besuchen, sonst fällt mir nämlich die Decke auf den Kopf.“

Hanna lachte: „Schon nach zwei Tagen?“ 
„Du weißt doch, dass mir schnell langweilig wird. Immer nur lesen ist nicht meins, ja und Handarbeiten schon gar nicht. Aber wem erzähle ich das?!“
Als die beiden Frauen später am Küchentisch saßen und über dies und das plauderten, waren deutliche Kindsbewegungen zu spüren. Nadine strich daraufhin beruhigend über ihren Babybauch und meinte: „Die Kleine wird uns auf Trab halten, ich sag’s dir. Die macht jetzt schon immer Radau.“
„Wenn sie nach ihrer Mutter schlägt, wird es so kommen!“, entgegnete die zukünftige Oma und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.
„Du willst doch wohl nicht behaupten, dass ich ein Rowdy bin“, erwiderte Nadine und tat ein bisschen beleidigt.
„Nein, natürlich nicht. Du weißt, wie ich es meine. Du bist halt gerne in Bewegung und dagegen ist wirklich nichts einzuwenden. Übrigens sollten wir uns nicht zanken. Du weißt ja, dass der kleine Wurm bereits mithört.“
„Oh ja, das weiß ich. Deshalb unterhalte ich mich ganz viel mit der Kleinen und erzähle ihr von ihrem zukünftigen Zuhause.“
„Hast du die Tasche fürs Krankenhaus schon gepackt?“, erkundigte sich Hanna nach einer Weile.
Nadine nickte: „Ganz ehrlich, so ein bisschen Bammel hab ich schon vor der Geburt. Aber dann sage ich mir immer, dass schon so viele Kinder geboren wurden. Da werde ich es wohl auch schaffen.“
„Ganz gewiss! - Weißt du, meine Erfahrung ist, dass die Mamis, die ihre Kinder im Moment der Geburt nicht loslassen können, es schwerer haben und dass es für die Mütter einfacher ist, die es gar nicht erwarten können, ihr Baby in ihren Armen zu halten.“
Nadine erwiderte daraufhin, dass sie gelesen habe, dass die Kinder, deren Mütter angstfrei in die Geburt gehen, bei späteren Prüfungen in ihrem Leben auch angstfreier seien.
„Das ist interessant und durchaus vorstellbar“, entgegnete Hanna.
Nach einer Weile des Schweigens meinte Nadine: „Weißt du, ich mache mir viel mehr Gedanken darüber, wie es sein wird, wenn das Kind da ist. Wie ich als Mutter sein werde und ob wir viele Fehler machen bei der Erziehung. Darüber mache ich mir im Moment mehr Gedanken, als über die Geburt.“
„Lass es auf dich zukommen, Kind. Du wirst ganz sicher Fehler machen, so wie wir es alle getan haben und immer noch tun.“
„Vielleicht lese ich im Moment ja auch zu viele von diesen Ratgebern“, meinte Nadine nachdenklich. „Aber man erfährt wirklich interessante Dinge. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass man das Kind durchaus früh an die Hausarbeit heran führen soll. Wenn es nämlich niemals seinen Teller selbst abspülen muss, dann ist sein Fazit daraus, dass es wohl ein anderer machen wird. Wenn man das Kind aber mit einbezieht, macht es die Erfahrung, dass jeder einen Teil zum Ganzen beizutragen hat.“
„Das ist ja hoch interessant“, rief die künftige Oma aus. „Und wer hat immer gemeckert, wenn ich ihn zur Hausarbeit angehalten habe?“
„Ja, ich weiß“, antwortete Nadine schuldbewusst, „aber heute sehe ich das ganz anders. Wer früh mit anpacken darf, kann später besser mit anderen Menschen zusammen arbeiten. Auf jeden Fall wird man dadurch viel selbständiger. In dieser Beziehung hast du also alles richtig gemacht.“
„Dein Uropa sagte immer“, erinnerte sich Hanna, „dass die ersten Jahre bedeutend sind für die Entwicklung des Kindes. Ob dein Kind später im Knast landet oder mit beiden Beinen im Leben steht, sagte er gerne, hängt maßgeblich von seinen Erfahrungen in den ersten Lebensjahren ab.“
„Mama, mach mir keine Angst.“
„Ach Quatsch! Opa drückte sich halt gerne drastisch aus, aber da ist schon was dran. Die Entwicklung sozialer und emotionaler Fähigkeiten ist für Kinder enorm wichtig. Und ganz sicher auch, dass sich die Eltern verstehen. Denn wer trägt es aus, wenn die Erwachsenen keinen guten Umgang miteinander pflegen und sich streiten? Die Kinder, die dann später unter Verlustängsten leiden.“
„Lach mich jetzt bitte nicht aus, wenn ich schon wieder erwähne, dass ich dazu etwas gelesen habe, aber es gibt Studien, wonach Kinder, die bei einem Elternteil aufwachsen, sogar besser klar kommen, als die, die mit beiden Eltern aufwachsen, dafür aber viele Streits erleben.“
„Das kann ich mir durchaus vorstellen. Die Hauptsache ist, dass du Verständnis für dein Kind zeigst und es nicht einengst, wie eine Übermutter.“
Nadine lachte: „Nein, eine Helikopter-Mutter werde ich ganz sicher nicht. Das kann ich mir absolut nicht vorstellen, aber auch nicht, dass ich eine besonders strenge Mutter sein werde. – Hab ich übrigens schon erwähnt, dass ich gelesen habe, dass Eltern nicht zu streng mit ihren Kindern sein sollen, sondern dass die Kinder später viel erfolgreicher werden, wenn man ihnen Durchhaltevermögen beibringt.“
„Weißt du, Nadine“, erwiderte Hanna ernst, „ich glaube ganz fest, dass sich diese kleine Seele euch als Eltern erwählt hat, weil sie bei euch genau die Erfahrungen sammeln darf, die sie braucht, um zu wachsen. Und wenn ihr euer Kind bei allem unterstützt, macht ihr schon ganz viel richtig. Und wenn ihr immer zu ihm steht und es eure Liebe spürt, wird es ein glückliches Kind sein. Und Glückskinder gibt es wahrlich nicht viele auf dieser Welt.“

© Martina Pfannenschmidt, 2018