Graufellchen
war sauer. Nicht auf seine Menschen,
aber auf viele andere. Der Grund war einfach: Sein Kopf schmerzte und innerlich
zitterte er immer noch ein wenig.
Was
die Menschen so praktizieren, war ihm wirklich suspekt. Gott sei Dank war die
Knallerei nun vorüber und der Alltag schien wieder Einzug gehalten zu haben.
An
diesem Vormittag waren Gerda und Karl nicht zuhause. Sie machten Besorgungen.
Das Wort kannte Graufellchen inzwischen. Es bedeutete zum einen, dass seine
Menschen aus dem Haus waren und zum anderen, dass sich, wenn sie heimkamen,
leckere Dinge in ihrer Tasche befanden.
Das
Mäuschen nutzte diese Zeit, um die Wohnung noch ein bisschen mehr zu erkunden
und so sah es, dass dort, wo seit ein paar Tagen die Tanne stand, ein Häufchen
Tannennadeln auf dem Boden lag und so dachte es sich, dass es großen Spaß
machen müsste, diese durcheinander zu wirbeln.
Deshalb
nahm es Anlauf und rutschte mit großer Geschwindigkeit über den
Parkettboden. Als die Tannennadeln dadurch in alle Richtungen stoben, juchzte
es vor Freude. Aber, oh Schreck! Es konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen,
weshalb es mit Karacho gegen den Tannenbaumständer prallte. Leise rieselten
daraufhin zwar keine Schneeflocken vom Himmel, jedoch weitere Tannennadeln zu
Boden.
Graufellchen
jammerte leise vor sich hin. Sein Kopf schmerzte jetzt noch mehr, als zuvor,
und jetzt tat ihm auch noch seine rechte Vorderpfote weh. Hätte er doch nur früher
die Folgen seines Verhaltens bedacht! Leicht humpelnd und mit gesenktem Kopf
schlich er Richtung Höhle, legte sich auf sein Wollmaus-Bett und bejammerte
lautstark seinen miserablen Zustand.
Als
eine Weile später die beiden Menschen zurück kamen und ihre Einkäufe in die
Küche brachten, blieb Graufellchen liegen und nahm nicht seinen Platz hinter
der Tür ein. Wie gut, dass die beiden bald darauf das Wohnzimmer betraten.
Jetzt konnte Graufellchen der Unterhaltung folgen, ohne sein Wollmaus-Bett verlassen
zu müssen.
„Weißt
du, was ich mich die ganze Zeit schon frage, Gerda“, vernahm er bald darauf,
„was ist bloß mit dem Mädchen los, das neben uns im Bus saß?“
„Du
meinst sicher die mit den quietschbunten Klamotten, den kurios frisierten
blauen Haaren und den kohlrabenschwarz geschminkten Augen, nicht wahr?“
„Ja,
genau die meine ich.“
„Wenn
du mich fragst“, antwortete Gerda, „sie will auffallen und ganz gewiss auf sich
aufmerksam machen. Sie will vielleicht nicht mehr die graue Maus sein, die
niemand wahrnimmt.“
Moment
mal, dachte sich Graufellchen in diesem Augenblick, was soll das denn heißen:
Sie will keine graue Maus mehr sein!
„Schau
dir die meisten Jugendlichen an“, fuhr Gerda fort, „sie wollen auf keinen Fall
auffallen und tauchen in der Masse unter. Sie tragen alle die gleichen Klamotten
derselben Marke. Das Mädchen im Bus will da nicht mitmachen. Ihr Weg ist gewiss
schwieriger zu gehen. Die anderen zeigen ihre Individualität nicht, sondern schwimmen
mit dem Strom. Bloß nicht auffallen – immer schön angepasst bleiben!“
„Wenn
man das so sieht“, erwiderte Karl, „ist das schon sehr schade, weil sie nicht
erkennen, dass sie alle etwas Besonderes sind und auch individuell, nicht wahr.“
„Ja,
genau das erkennen sie nicht. – Wenn ich an die Jugendliche aus dem Bus denke,
glaube ich allerdings, dass sie ihre wahre Identität auch noch nicht gefunden
hat. Sie will einfach nur aus der Masse heraus stechen, wahrgenommen werden und
anders sein, als alle anderen. Dass sie bereits seit ihrer Geburt etwas
Besonderes und Einmaliges ist, hat sie für sich aber sicher noch nicht erkannt.“
Karl
nickte zustimmend.
„Da
gibst du mir ein Stichwort, Gerda. Wir sind ja von Geburt an nicht nur
unvergleichbare Wesen, sondern auch Familienmenschen. Doch das scheint
irgendwie aus der Mode gekommen zu sein. Noch nie lebten so viele Menschen auf
so engem Raum, aber noch nie schienen sie so einsam zu sein, wie in der
heutigen Zeit.“
„Ich
könnte mir denken, Karl, dass ein Grund dafür ist, dass wir heutzutage älter
werden, als früher, denn gerade alte Menschen sind oft einsam.“
„Ja
schon. Da stimme ich dir zu. Aber für mich hat es den Anschein, als ob die
Jüngeren direkt die Einsamkeit suchen. Sie sitzen zuhause vor dem PC oder dem
Fernseher, anstatt gemeinsam etwas zu unternehmen.“
„Ja,
es hat zumindest den Anschein, dass viele den Kontakt mit anderen gar nicht mehr
suchen.“
„Auf
jeden Fall bin ich der Überzeugung“, erwiderte Karl, „dass wir Menschen gar
nicht als Einzelgänger gedacht sind. Gemeinsam sind wir stark, sagen wir doch
gerne.“
„Ja,
das sagen wir, doch viele gehen ihren Weg lieber alleine und setzen ihre Ellenbogen
ein, um an anderen vorbei zu ziehen. Dieses Verhalten macht auf Dauer sicher
auch einsam.“
„Und
auch die Tatsache, dass wir in der heutigen Zeit nicht mehr so sehr auf andere
angewiesen sind. Das war früher mal anders.“
„O
ja, das war es. Ich habe manchmal den Eindruck, als wollten die Menschen gar
nichts mehr miteinander zu tun haben.“
„Anstatt
sich zum Mensch-ärgere-dich-nicht-spielen oder zum Doppelkopf zu treffen
spielen sie lieber online.“
Gerda
lachte auf: „Nein, Karl, das entspricht nun wirklich nicht mehr dem
Mainstream.“
„Es
scheint überhaupt aus der Mode gekommen zu sein, Nähe zu suchen, Gerda.“
„Das
ist wirklich schade, Karl. Es ist doch so schön, andere Menschen in sein Leben
zu lassen und sie wissen zu lassen, wie wertvoll sie sind.“
„Da
bleibt mir nur zu hoffen“, entgegnete Karl, „dass viele in diesem gerade
begonnenen neuen Jahr aus ‚einsam’ wieder ‚gemeinsam’ machen.“
©
Martina Pfannenschmidt, 2018
Als im vergangenen Jahr die erste
Graufellchen-Geschichte
an den Start ging,
ahnte ich noch nicht,
dass die kleine Maus
soviel Potential für Geschichten liefert -
und so geht es mit Graufellchen
auch im neuen Jahr
noch ein bisschen weiter!