Ursel
ging schweren Schrittes die steile Stiege auf den Dachboden hinauf. So lange
wollte sie dort schon aufräumen und Ordnung schaffen, doch immer war etwas
dazwischen bekommen. In den letzten Monaten hatte sie die Zeit dazu gar nicht
aufbringen können. Ihre Mutter war erkrankt und hatte ihre Hilfe benötigt.
Jetzt war sie verstorben und Ulla hatte den Eindruck, als gäbe es da alte
Dinge, von denen sie sich trennen sollte.
Als
sie die Bodentür öffnete, stieg ihr der Geruch von Staub in die Nase und sie
nieste kräftig. Schnell öffnete sie die Dachluke um ein wenig frische Lust in
diesen Raum hinein zu lassen. Ach herrje, hier warteten viel Arbeit auf sie –
aber auch viele Erinnerungen. Ihr Blick fiel auf ihr altes Schaukelpferd. Nein,
von dem würde sie sich bestimmt nicht trennen. Aber sie könnte es wieder
herrichten lassen und es mit hinunter nehmen als liebevolles Erinnerungsstück
an Kindheitstage.
Sie
hob den Deckel der schweren Eichentruhe an. Der Holzwurm hatte hier ganze
Arbeit geleistet. Schade eigentlich. Die Truhe lag randvoll mit Dingen ihrer
Kinder- und Jugendtage. Eines nach dem anderen entnahm sie und ließ ihre
Gedanken in die Vergangenheit ziehen. Ob sie sich wirklich von den Dingen
trennen wollte und konnte? Ihr kamen erste Zweifel.
Ulla
nahm ihre Spieluhr in die Hand und zog daran. ‚La Le Lu, nur der Mann im Mond schaut zu’ ertönte sogleich. Sie schmunzelte und
erinnerte sich dran, dass sie zu dieser Melodie als Kind gerne getanzt hatte. Doch plötzlich überkam
sie ein Schwindelgefühl. Sie setzte sich auf den alten Stuhl in der Nähe der
Truhe. Was hatte das zu bedeuten? Mit Schwindel hatte sie noch nie zu tun
gehabt. Sie schaute sich die Spieluhr genauer an. Sie wusste von ihrer Mutter,
dass Tante Paula ihr diese geschenkt hatte. Jetzt war sie nur noch die einzige
Überlebende ihrer Familie mütterlicherseits. Ihr Vater, ihr Onkel und auch ihre
Mutter waren inzwischen verstorben.
Damals,
als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatten sie alle zusammen in einer
Straße gewohnt, waren Nachbarn gewesen. Doch dann hatte es ihre Eltern und sie
in einen anderen Ort verschlagen. Ursel fragte sich in diesem Moment, weshalb
sie nicht dort wohnen geblieben waren. Hatte es berufliche Gründe gegeben?
Weshalb hatte sie nie danach gefragt? Weshalb war das nie Thema gewesen? Das
war irgendwie komisch und jetzt war ihre Mutter verstorben und es war zu spät.
Sie konnte sie nicht mehr fragen. Ob sie mal zu ihrer Tante fahren und sie fragen
sollte? Doch das wäre wohl sinnlos, denn sie wusste, dass diese seit einigen
Jahren an der Krankheit, die man Alzheimer nannte, erkrankt war.
Ursel
legte die Spieluhr zurück in die Truhe und schloss den Deckel. Heute würde sie
es nicht schaffen, sich von den alten Dingen zu trennen. Es schien nicht der
richtige Zeitpunkt zu sein und sie fühlte sich auch irgendwie nicht gut.
Nachdem
ein paar Tage ins Land gezogen waren, hatte Ursel den Entschluss gefasst, ihre
Tante zu besuchen. Nach so vielen Jahren befand sie sich nun auf dem Weg in den
Ort ihrer Kindheit. Seit ihre Eltern damals so unerwartet von dort weg gezogen
waren, gab es kaum noch Kontakt zu ihren Verwandten. Sie wusste, dass die
Entfernung in der heutigen Zeit nicht der Grund dafür gewesen sein konnte. Ganz
tief in ihr lag die Vermutung, dass damals etwas geschehen sein musste. Tante Paula war früher Lehrerin und ihr Mann,
Onkel Paul, der Schulleiter der Grundschule des Ortes gewesen. Die beiden
hatten keine eigenen Kinder bekommen. Ursel erinnerte sich, dass ihre Tante ihr
früher heimlich Süßigkeiten zugesteckt
hatte.
Die
letzte Begegnung mit ihrer Tante lag lange zurück. Damals, bei der Beerdigung
ihres Onkels, war es zu dem letzten Zusammentreffen gekommen. Danach nie
wieder. Doch jetzt war sie auf dem Weg zu ihr. Da Ursel seit Jahren unter
Angststörungen litt, hatte sie sich entschieden, die lange Strecke lieber mit
der Bahn zu fahren und nicht mit dem Auto.
Nun
war sie im Altenheim angekommen, stand vor dem Zimmer ihrer Tante und klopfte
leise. Als Ursel den Raum betrat, erschrak sie. In der schmalen Frau mit den weißen Haaren,
die in dem viel zu großen Ohrensessel saß, erkannte sie nur auf den zweiten
Blick ihre Tante. Sie schaute nicht einmal hoch, als Ursel den Raum betrat,
sondern kämmte voller Hingabe die Haare einer Puppe, die sie in ihrem Schoß festhielt. Ein Bild, das Ursel Tränen
in die Augen trieb.
Sie
trat näher, strich der Tante über den Arm, sah sie liebevoll an: „Hallo, Tante
Paula, erkennst du mich noch? Ich bin es, Ursel! Wir haben uns lange nicht
gesehen.“
Paula
sah kurz auf, lächelte und wiederholte ihre Worte: „Lange nicht gesehen!“ Schon
sah sie wieder zu ihrer Puppe und begann erneut, sie zu kämmen.
Ursel
setzte sich ihrer Tante gegenüber in den Sessel und betrachtete die Szene -
einerseits traurig, doch andererseits schien sie nicht unglücklich zu sein in
ihrer Welt. Ob sie in ihrer Kinderwelt lebte? Was diese Krankheit aus einem
Menschen machte – unvorstellbar. Ursels Gedanken gingen unweigerlich zurück in
ihre eigene Kindheit. Sie sah alles genau vor sich. Ihre Tante und ihren Onkel,
die im Nachbarhaus wohnten. Szene um Szene aus jenen Tagen ging ihr durch den
Kopf. Als erahne Paula Ursels Gedanken, schaute sie hin und wieder auf und
lächelte, um gleich darauf wieder in ihrer Welt zu versinken.
„Weißt
du noch, wie schön es früher war, als wir alle beieinander wohnten? Wenn du es
mir doch nur erzählen könntest, ob damals etwas vorgefallen ist und weshalb wir
so plötzlich weggezogen sind“, seufzte Ursel.
„Verboten!“
Ulla
erschrak. „Was hast du da gerade gesagt?“, fragte sie nach, obwohl sie es ganz genau
verstanden hatte, was die Tante so unerwartet von sich gegeben hatte.
‚Verboten’
hatte Paula gesagt. Sie hatte es ganz deutlich gehört. Was war verboten? Wieder
wurde ihr schwindlig, genau wie vor ein paar Tagen, als sie diese Melodie
gehört hatte.
„La Le Lu, nur der Mann im
Mond schaut zu“,
sang Ursel leise. Bei ihrer Tante liefen dabei Tränen über die Wangen.
Urplötzlich
stiegen Bilder in Ursel auf: Sie waren alle zu einer Hochzeit eingeladen
gewesen. Sie war wohl 5, knapp 6 Jahre alt, damals. Ihre Eltern wollten von der
Feier nach Hause, da sie, Ursel, müde geworden war. Doch der Onkel hatte
gemeint, ihre Eltern könnten noch bleiben. Er habe sowieso Kopfweh. Er würde sie,
Ursel, zu Bett bringen und bei ihr bleiben, bis die Eltern heim kämen. Unbedarft
war sie mit ihm an seiner Hand nach Hause gegangen. Sie erinnerte sich, dass
sie ärgerlich geworden war, weil er ihr beim Entkleiden helfen wollte. Sie sei
schon groß hatte sie gesagt und bräuchte seine Hilfe nicht. Ursel wurde schwarz
vor Augen! Nein, das konnte nicht sein. Alles bäumte sich in ihr auf. Sie
sprang aus ihrem Sessel auf. „Nein, bitte nicht“, sagte sie laut in den Raum
hinein, so dass ihre Tante erschrak und sie entsetzt anschaute. Die Bilder und
Gedanken, die jetzt in ihr hoch stiegen, waren entsetzlich. Ihr Onkel, er hatte
sie sexuell berührt und dann musste sie …. NEIN, schrie es in ihr: NEIN!! Jedes
Detail kam hoch. Er hatte die Spieluhr angestellt und dann … was hatte er ihr nur
angetan? Der Mann, der täglich mit so vielen Kindern Umgang hatte, dem sie
blind vertraut hatte, wollte, dass sie mit ihrer kleinen Hand seinen Penis
umfasste. Doch sie wollte das nicht tun. Da hatte er ihr gedroht, es ihrer Mutter
zu erzählen und die würde dann böse auf sie sein. In dem Moment war die Tür
aufgerissen worden und ihre Mutter hatte im Türrahmen gestanden. Ursel sah noch
heute die Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht. Sie hatte ihren Bruder angeschrieen
und auf ihn eingeprügelt, woraufhin er seine Sachen geschnappt und aus dem
Zimmer gerannt war – immer wieder beteuernd, dass sie die Situation völlig falsch
interpretiere und gar nichts passiert sei. Aber was wäre geschehen, wäre ihre
Mutter nicht ins Zimmer gekommen? Sie wollte es sich lieber nicht ausmalen.
Ursel
rannte ins Bad - sie musste sich übergeben. Das durfte nicht wahr sein. Ihre
ganze Familie hatte den Mantel des Schweigens über diese Sache gelegt und sie
im Unklaren darüber gelassen, was damals geschehen war. Wahrscheinlich hatte
sie aus Schutz diese Tragödie vergessen und die Bilder verdrängt. Doch heute
kamen sie mit aller Gewalt hoch und ließen sie erschaudern. Kamen ihre
Angstzustände vielleicht daher und war sie deshalb allein stehend geblieben,
weil sie sich keinem Mann mehr anvertrauen konnte? Niemand von damals lebte
noch, nur ihre Tante Paula. Vielleicht wollte auch sie sich nicht mehr
erinnern. Jetzt konnte sie es nicht mehr!
Sie,
Ursel, würde nun allein damit klar kommen müssen, dass ein dunkler Schatten
über ihr und ihrer Familie lag und der Schuldige als ehrenwerter Mann diese
Welt verlassen hatte. Wie schlimm musste das Ganze auch für ihre Tante und ihre
Eltern gewesen sein.
©
Martina Pfannenschmidt, 2015