Freitag, 10. November 2017

An Tagen wie diesen

Peter war voll bepackt, als er mit seiner Angetrauten durch das Einkaufszentrum ging. „Was denkst du, Henriette, haben wir jetzt alles?“
Seine Frau strich über ihren Babybauch und fragte: „Was meinst du, fehlt noch etwas oder sind wir gut vorbereitet?“ Anschließend tat sie so, als würde sie in sich hinein horchen und der Antwort des Babys lauschen. „Es meint, wir seien hervorragend vorbereitet“, antwortete sie lächelnd.
Just in dem Moment klingelte sein Handy. Eigentlich klingelte es nicht, sondern es trällerte - eine Melodie nämlich: ‚An Tagen wie diesen’ ertönte es. Peter musste zunächst sämtliche Päckchen, Tüten und Taschen auf dem Boden abstellen. Anschließend kramte er umständlich nach seinem Handy, das er in die Innentasche seiner Jacke gesteckt hatte.
Seine Reaktionen ließen vermuten, dass es sich um einen wichtigen Anruf handelte. Bestimmt hatte es etwas mit seiner Bewerbung um die Stelle als neuer Pfarrer in einer kleinen Dorfgemeinde zu tun.
„Henriette“, rief Peter hoch erfreut, nachdem er aufgelegt hatte, „ich bin in der engeren Wahl und soll am Sonntag eine Probepredigt halten. Ist das nicht toll? Das ist dieee Chance, von der Stadt aufs Land zu ziehen. Wir hatten uns doch immer gewünscht, dass unsere Kinder dort aufwachsen sollen. Vielleicht geht unser Traum jetzt in Erfüllung. Ich darf es am Sonntag nur nicht vermasseln. Was sagst du dazu?“
Zunächst einmal sagte sie nichts – gar nichts.
„Henriette, freust du dich gar nicht über diese Nachricht?“
„Doch schon, na klar freue ich mich. Für dich natürlich ganz besonders. Aber am Sonntag ist der errechnete Geburtstermin. Was, wenn unser Kind genau an dem Tag geboren werden möchte?“
„Was du dir nur für Gedanken machst. Kaum ein Baby kommt genau zum errechneten Termin auf die Welt.“
„Und wenn doch?“, beharrte Henriette. „Du hast es hoch und heilig versprochen, bei der Geburt dabei zu sein“, erinnerte sie ihren Mann.
„Das habe ich und das halte ich auch“, war er sicher.
Die Tage zogen dahin. Peter wurde immer nervöser, zumal er inzwischen wusste, dass er frei predigen müsste, ganz ohne Konzept. Er würde, so hatte man ihm gesagt, auf der Kanzel einen Zettel, auf dem man eine Bibelstelle notiert habe, vorfinden und darüber solle er spontan predigen. Seit diesem Wissen bat er allabendlich in seinem Zwiegespräch mit dem Herrgott, er möge ihm dabei zur Seite stehen.
Samstagabend, 22.00 Uhr. Henriette vernahm ein leichtes Ziehen im Rücken. Die Vorzeichen für Peter standen schlecht. Einerseits strebte er diese Stelle als Pfarrer an, andererseits wollte er natürlich seine Frau nicht enttäuschen und selbstverständlich war es sein größter Wunsch, bei der Geburt seines Kindes dabei zu sein.
„Herr“, sprach er deshalb noch einmal sehr eindringlich in seinem Gebet, „ich übergebe die Sache in deine Hände. Du wirst es für mich regeln, so wie du es immer getan hast.“
Peter wurde nach diesem Gespräch zwar etwas ruhiger, doch er konnte seine eigenen Gedanken und Wünsche, wie es am morgigen Sonntag für ihn ablaufen sollte, nicht ganz unterbinden. Es war leichter gesagt: Ich lege meine Sorgen in deine Hände, als es getan war.
Das Ziehen im Rücken seiner Frau war auch am nächsten Morgen noch da, sogar verstärkt. Peter machte sich dennoch sehr zeitig auf den Weg. Henriette hatte ihm tatsächlich das Versprechen abgenommen, während des Gottesdienstes das Handy nicht auszuschalten und sofort zu ihr zurück zu kehren, falls sie ihm melden würde, dass das Baby geboren werden wollte.
Peter stand etwas abseits und betrachtete nervös die Schar der Gottesdienstbesucher. Der Küster ging an ihm vorüber, grinste und meinte: „Ja, das ist immer so. Wenn sie alle hinein gingen, wollen sie nicht hinein. Und wenn sie nicht mehr hinein gehen, wollen sie plötzlich hinein!“ Lachend ging er weiter. Peter musste sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen lassen – dann schmunzelte er auch.
Eine kurze Zeit später betrat er gemeinsam mit dem Pfarrer, der nun in den Ruhestand wechseln wollte, das Kirchengebäude. Es war wirklich sehr voll, was Peter noch unruhiger werden ließ. Er musste sich eingestehen, dass es ihm lieber wäre, eine geschliffene und ausgefeilte Predigt in der Tasche zu haben. Aber nun war es anders. Da musste er durch. Und jetzt war es so weit.
Während die Gemeinde noch das Lied vor der Predigt sang, betrat Peter die Kanzel. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Über welche Bibelstelle er wohl predigen sollte?! Er fand einen weißen Zettel vor, nahm ihn an sich, drehte ihn um und sah: Nichts! Es stand nichts auf dem Zettel. Ob er sich nun darüber freuen sollte oder nicht, war ihm in diesem Moment nicht ganz klar. Es blieb ihm aber gar keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. In zwei Minuten wäre der Gesang beendet und dann ging es für ihn los.
„Liebe Gemeinde! Lukas schreibt: ‚Bei Gott ist kein Ding unmöglich!’ - Und wie ist das bei uns Menschen? Wie oft kommen wir an unsere Grenzen? Uns ist vieles ‚nicht möglich’. Doch bei Gott ist das anders, ihm ist ALLES möglich!“ --- An Tagen wie diesen --- Oh nein, bitte nicht!! --- Henriette rief an. JETZT!!!
In der Gemeinde machte sich eine gewisse Unruhe breit. Man suchte den Störenfried, der vergessen hatte, sein Handy auszuschalten. Doch er war so schnell nicht auszumachen. Das Gedudel kam doch nicht etwa – von der Kanzel???
„Entschuldigung“, sagte Peter verlegen, „meine Frau – ich müsste mal eben kurz … – Henriette, ich bin mitten in der Predigt. - Jetzt? - Aber wie soll ich das machen?!?  - Ja, okay!“
Die Gottesdienstbesucher sahen sich gegenseitig an, blickten wieder hinauf zu Peter und konnten es nicht glauben. Der Pfarrer stand auf der Kanzel und telefonierte tatsächlich mit seiner Frau. Soooo etwas hatte es hier noch nicht gegeben.
„Liebe Gemeinde“, wiederholte Peter, nachdem er das Telefonat beendet hatte, „es wäre Gott durchaus möglich, die Geburt meines Sohnes nicht an diesem Tag und zu dieser Stunde geschehen zu lassen. Aus irgendeinem Grund findet er jedoch, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist. Meine Frau befindet sich bereits auf dem Weg ins Klinikum und deshalb haben Sie bitte Verständnis, dass ich an dieser Stelle abbreche und zu meiner Frau fahre. An Tagen wie diesen muss man Entscheidungen treffen.“
Mit diesen Worten verließ er mit wehendem Talar die Kirche und ließ eine verwirrte Gemeinde zurück. Der verbleibende Pfarrer hatte seine Mühe, die Besucher zur Ruhe zu bringen. War es das jetzt für ihn, fragte sich Peter auf dem Weg ins Klinikum? Egal! Seine Frau und die Geburt seines Sohnes hatten jetzt Priorität!
Eine Stunde nachdem Peter das Krankenhaus erreicht hatte, wurde das Kind bereits geboren. Als Peter den Kleinen zum ersten Mal auf seinem Arm hielt, wusste er, dass er alles richtig gemacht hatte. Diesen Moment versäumt zu haben, hätte er sich niemals verzeihen können.
Dank eines Telefonates mit dem Pfarrer der Gemeinde wusste er einige Tage später, dass zwar nicht alle begeistert über seinen Abgang gewesen waren, doch dass die Mehrheit bestimmt habe, ihn zu einer erneuten Probepredigt einzuladen. Sie waren der Meinung, einen solch entschlusskräftigen Pfarrer in der Gemeinde gut gebrauchen zu können. - Ein halbes Jahr später zog eine kleine Familie ins Pfarrhaus ein.


© Martina Pfannenschmidt, 2015