Freitag, 10. November 2017

Opa Anton und der Maulwurf ‚Einstein’

Opa Anton war wirklich ein herzensguter Mensch. Seine Familie war sein ein und alles und im Garten zu wirken war für ihn keine Arbeit, sondern ein Hobby. Er war stolz auf seinen immer satt grünen Rasen, auf dem kein Unkräutchen stand. Unkraut war ihm ein Gräuel. Er konnte einfach keinen Nutzen in ihm sehen.
Anton war eigentlich ein friedliebender Mensch. Er mochte Menschen und auch Tiere. Aber ein Tier gab es, das ihm die Nackenhaare zu Berge stellen konnte: der Maulwurf. Opa Anton hasste Maulwürfe. Er mochte diese Erdhaufen, die sie hinterließen, nicht – und schon gar nicht auf seinem Rasen. Anscheinend ahnten diese Tiere, dass sie bei Anton einen schweren Stand haben würden. Bis jetzt hatte es noch kein Maulwurf  gewagt, seinen Rasen zu zerstören.
Als vor ein paar Jahren seine Frau verstorben war, hatte er sein Häuschen und das gesamte Grundstück seiner Tochter Emilie vererbt. Sie baute das Haus um und war mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter Leni zu ihm gezogen.
Er verstand sich gut mit der jungen Familie und ganz besonders war ihm die kleine Leni ans Herz gewachsen. Emilie, seine Tochter, hatte die Liebe zur Natur von ihm geerbt. So hielten sie jetzt gemeinsam den Garten in Ordnung. Doch ab und an gab es deswegen kleine Reibereien zwischen ihnen. Bei Emilie durfte auch ein Unkraut stehen und vor allen Dingen mochte sie eine bunte Blumenwiese.
Früher hatte Anton in jedem Frühjahr und dann noch einmal im späten Sommer seinen Rasen mit einem Kunstdünger gedüngt. Das war nun verboten. Angeblich sollte es nicht gut sein für den Boden. Zumindest behauptete das seine Tochter. Anton konnte es nicht so recht glauben, denn sein Rasen sah immer kräftig und gesund aus.
„Weißt du, weshalb sich kein Maulwurf in unseren Garten verirrt?“, hatte Emilie eines Tages bei ihrer kleinen Auseinandersetzung gefragt. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Na, weil du den Boden mit diesem Kunstdünger verseucht hast. Maulwürfe kommen nur dort, wo der Boden gesund ist.“ „Umso besser“, dachte Anton.
Natürlich hatte er es nicht gesagt, denn er wollte keinen Streit mit Emilie.
Ein paar Jahre später. Anton saß auf der Terrasse und hatte sich an den Anblick von Kräutern in seinem Rasen gewöhnt – zumindest mehr oder weniger. Argwöhnisch beobachtete er die Maulwurfshaufen in der Nachbarwiese. Dort weideten ein paar Schafe und ein kleines Pony gab es auch – und Millionen von Maulwurfshaufen.
„Bleibt bloß dort und traut euch nicht her“, murmelte er. Leni hatte trotzdem gehört, was der Opa genuschelt hatte.
„Mit wem sprichst du, Opa?“, fragte sie ihn.
„Ich spreche mit den Maulwürfen dort drüben. Schau nur, wie die Wiese aussieht mit den vielen Maulwurfshaufen. Also, wenn die sich hierher trauen, dann Gnade ihnen Gott.“
Leni war entsetzt. So kannte sie ihren Opa gar nicht. Er war doch immer so nett und jetzt das.
„Was willst du machen, wenn sie zu uns kommen?“, fragte sie ihn deshalb ängstlich.
„Als ich noch ein Kind war“, antwortete ihr Opa, „da hat sich mein Opa mit einem Spaten direkt neben einen Maulwurfshaufen gestellt, wenn er gerade aufgeworfen wurde. Er musste ganz langsam und leise dorthin gehen, denn Maulwürfe bemerken jede Vibration im Boden, dann sind sie schnell weg. Also schlich mein Opa zu dem Haufen, stellte sich mit dem Spaten daneben und stach zu. Den einen oder anderen Maulwurf hat er so erwischt.“
„Aber das ist ja ganz schrecklich, Opa. Das wirst du doch nicht machen?“, fragte Leni mit zitternder Stimme.
„Sie sollen halt dort bleiben, die Viecher“, meinte Opa, „dann passiert ihnen auch nichts“.
In der darauf folgenden Nacht bekam Leni kein Auge zu. Was, wenn sich ein Maulwurf getraute, auf ihrem Rasen einen Erdhaufen zu hinterlassen. Dann würde Opa Anton ihm bestimmt den Garaus machen. Das müsste sie verhindern. Sie wusste auch schon wie.
Einstein lebte mit seiner Familie unter der Erde. Eigentlich hieß er nicht Einstein, sondern ‚Friedrich vor dem Wiehen’, doch als er noch ganz jung war, da war ihm bei seinen ersten Grabeversuchen ein Stein auf den kleinen Kopf gefallen und hatte eine Beule hinterlassen. Seither hatte er den Spitznamen ‚Einstein’.
Seine ganze Familie lebte unter einer wundervollen Wiese, auf der Schafe weideten und auf dem ein kleines Pony stand. Auf dem Nachbarfeld wurde in jedem Jahr ein anderes Getreide ausgesät, doch dorthin verirrten sie sich nicht, denn das Feld wurde gedüngt und der Boden darunter war verseucht. Dort fühlten sie sich nicht wohl. Auch der Boden unter dem Rasen von Opa Anton war tabu. Alles durchseucht.
„Dass die Menschen gar nicht überlegen, was sie tun“, dachte Einstein. „Wenn sie so weiter machen, dann ist unsere gute Mutter Erde über kurz oder lang schwer krank. Hoffentlich wachen sie bald auf und denken um, die Menschen“.
Einstein grub seinen Weg und machte einen neuen kleinen Hügel auf der grünen Wiese. Vorsichtig schaute er aus ihm heraus, denn er hörte in der Nähe ein lautes Lachen. Das könnte sein Bruder Bruno sein. Tatsächlich. Bruno schaute aus dem Nachbarhügel und hielt sich vor Lachen den Bauch.
 „Was gibt es denn dort zu sehen?“, rief ihm Einstein zu.
„Komm her, Einstein“, rief Bodo. „Das musst du dir unbedingt ansehen.“
Schnell rannte er hinüber zu Bodo. Und dann sah er es. Dort stand ein großes Schild auf dem hatte jemand einen Maulwurf gemalt und daneben stand in Kinderschrift geschrieben: ‚Halo. Bite bleibt wo ir seid und komt nich zu uns. Mein Opa mak euch nich. Leni’. 
„Ist das nicht zum Totlachen, Einstein?“, fragte Bodo.
Nein, Einstein fand das gar nicht zum Lachen und überlegte sich, wie er es wohl anstellen könnte, die kleine Leni zu treffen.
Er blieb in der Nähe des Hauses, in dem Leni wohnte. Jetzt kam sie aus dem Haus und ging zu ihrem Sandkasten. Einstein nahm all seinen Mut zusammen und lief zu ihr. Mit piepsiger Stimme fragte er: „Du bist doch die Leni, oder?“
Erstaunt schaute sich die Angesprochene um. „Ja, aber wer fragt mich das?“, wollte Leni wissen, denn sie konnte niemanden sehen.
„Nach unten musst du schauen, hier bin ich doch“, sagte Einstein und stellte sich auf die Hinterbeine, so dass er etwas größer wurde.
Leni war gar nicht überrascht. Im Gegenteil. Sie freute sich, den Maulwurf zu sehen. Bestimmt hatte er ihr Schild gelesen und wollte fragen, was es damit auf sich hatte. Leni berichtete von ihrem Opa Anton und was er ihr von seinem Opa erzählt hatte. Da erschrak Einstein und bedankte sich bei Leni. Einstein wollte gleich am Abend eine Maulwurfversammlung einberufen und allen erzählen, wie gefährlich es für sie wäre, das Grundstück von Opa Anton zu betreten.
„Danke, dass du uns gewarnt hast“, sagte Einstein. „Wir werden nicht zu euch kommen. Die Hauptsache ist, dass Opa Anton keinen Kunstdünger mehr streut.“
„Bestimmt nicht“, antwortete Leni, „darauf passt meine Mama schon auf.“
„Tschüß, Einstein“, rief Leni ihm nach, als dieser wieder in seinem Erdloch verschwand.
Schade, jetzt hatte sie ihn nicht gefragt, weshalb er diesen Namen hatte.
„Bestimmt, weil er so ein kleiner, schlauer Maulwurf ist“, dachte Leni und freute sich, denn sie hatte soeben zumindest einem dieser kleinen nützlichen Tiere das Leben gerettet.


© Martina Pfannenschmidt, 2014