Freitag, 10. November 2017

Oma-Momente

Seit vielen Jahren lebte Annemarie in dem alten Reihenhaus in der Herrmannstraße. Es war ihr zu einem wirklichen Zuhause geworden, obwohl in ihrer Nachbarschaft ein ständiges Kommen und Gehen war. Manche Mieter kannte sie nur vom Sehen. Seitdem sie wegen ihrer Beschwerden das Haus kaum noch verlassen konnte, vermisste sie auch die Gespräche, die sich früher im Hausflur ergeben hatten. Doch sie fügte sich ihrem Alter und den Problemen, die sich damit einstellten. So war es halt. Wer suchte schon den Kontakt zu alten Menschen?
Früher war sie eine fröhliche Person gewesen. Sie hatten so gerne getanzt, ihr Waldemar und sie. Doch das war Vergangenheit. Alles hat seine Zeit, so sagt man und das traf wohl auch zu.
Seit einigen Tagen plagte sie nun schon dieser furchtbare Husten. Sie versuchte ihm mit allerlei Hausmitteln zuleibe zu rücken, doch so ganz gelang ihr dies nicht. Vielleicht sollte sie doch den Arzt rufen? Aber noch nicht heute.
Annemarie saß in ihrem abgewetzten Sessel und schaute unter den Esszimmertisch. „Ach, ihr Lieben“, sagte sie, „wie schön, dass ihr mir Gesellschaft leistet. So bin ich doch wenigstens nicht so ganz alleine hier.“ Jetzt wirst du wirklich verrückt im Kopf, dachte sie. Wer spricht schon mit den Wollmäusen, die sich unter dem Tisch tummeln. Sie konnte sich einfach nicht aufraffen, um den Besen aus der Abstellkammer zu holen. Alles fiel ihr so schwer.
Wieder wurde sie von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, so dass sie fast die Haustürklingel überhört hätte. Wer konnte das nur sein? Zu ihr kam doch sonst niemand. Der Postbote?
Langsam schlurfte sie Richtung Tür. Davor stand ein kleiner Junge. Er trug einen Teller vor sich her auf dem Kekse lagen.
„Hallo, ich bin Erik“, stellte er sich vor, „meine Mutter und ich, wir sind nebenan eingezogen. Wohnst du ganz alleine hier?“
„Ja, ich wohne ganz alleine hier, weshalb fragst du?“
„Ich wollte dir ein paar Kekse bringen und wenn du alleine bist, bleiben vielleicht für mich noch ein paar übrig.“
Annemarie lachte. „Das ist ja nett von dir und deiner Mama. Ich freue mich darüber und sicher bleiben für dich noch welche davon übrig. Warte, ich schaue nach einem Teller auf den du die Kekse legen kannst. Willst du herein kommen, Erik?“
Schon ging er an ihr vorbei ins Wohnzimmer.
„Du hast ja gar keinen Adventskranz“, stellte der Junge unumwunden fest, „willst du denn morgen gar nicht Advent feiern?“
„Ach Junge, dass ist gar nicht so einfach für mich. Ich kann mir keine Tannen besorgen und die Kerzen und der Schmuck liegen hoch oben in einem Schrank in der Abstellkammer. Aber weißt du, der Advent kommt trotzdem zu mir – nur halt ohne Schmuck und Kerzen.“
„Das finde ich aber echt doof. Soll ich dir vielleicht den Karton herunter holen?“, fragte er und seine Augen strahlten dabei.
Eigentlich hatte sich Annemarie schon damit abgefunden, dass es bei ihr in diesem Jahr eine glanzlose Adventszeit geben würde, doch sie wollte den Jungen nicht enttäuschen und deshalb gingen sie gemeinsam in die kleine Kammer. Der Schrank, in dem sich der Karton mit dem Adventsschmuck befand, war verschlossen, doch das ließ sich schnell ändern. Flink stieg der Junge auf eine kleine Leiter.
„Ist es dieser hier“, fragte er und zog an einem alten Schuhkarton.
„Ja, genau, der ist es. Sei vorsichtig, damit nicht alles heraus plumpst – oder du von der Leiter fällst!“, ermahnte Annemarie ihn.
Alles verlief reibungslos und kurz darauf nahmen sie am Tisch platz. Erik öffnete vorsichtig und voller Erwartung das kleine Schatzkätzchen. Wie das blitzte und blinkte! Ein kleines Juwel nach dem anderen entnahm der Junge vorsichtig dem kleinen Karton. Kleine Fliegenpilze und mit weißem Schnee besprühte Tannenzapfen, die so schön glitzerten.
„Oh, sind die schön. Darf ich sie vielleicht meiner Mama zeigen?“, erkundigte sich Erik. Doch gleich darauf kam ihm eine andere Idee: „Weißt du was, ich frage sie, ob sie dir auch einen Adventskranz macht und dann kommen all die bunten Sachen darauf und natürlich Kerzen.“
„Ich möchte deiner Mama aber keine Arbeit machen. Das wäre mir nicht recht, wo du mir doch schon Kekse gebracht hast.“
Erwachsene waren manchmal komisch. Wo war das Problem? Seine Mama machte doch sowieso gerade einen Adventskranz, da konnte sie doch schnell noch einen zweiten binden.
Während Erik über die Situation nachdachte, kam ihm noch ein viel besserer Gedanke und den tat er auch sogleich kund: „Wir können es auch anders machen. Ich gehe zu meiner Mama und hole sie hierher und dann macht sie hier bei dir die Kränze und du kochst einen Kaffee. Und wenn alles fertig ist, gibt es Kaffee und Kekse. Wollen wir es so machen?“
„Da musst du aber erst einmal deine Mama fragen, ob sie mit deinem Vorschlag überhaupt einverstanden ist.“
So schnell konnte Annemarie gar nicht schauen, wie der Junge durch die Tür verschwunden war. Keine fünf Minuten später kam er mit seiner Mutter und jeder Menge Tannengrün im Schlepptau zurück.
„Das ist meine Mama“, stellte Erik sie vor, „und das ist …“ Ach herrje, er hatte die Nachbarin gar nicht nach ihrem Namen gefragt.
„Annemarie“, half sie dem Jungen aus. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Sie war so erfreut über diesen Besuch und über die unerwartete Zuneigung, die ihr entgegengebracht wurde, dass sie einen dicken Kloß im Hals verspürte. Doch der war spätestens verschwunden, als sie alle gemeinsam die Kekse vernaschten.
„Weißt du was, Oma Annemarie, das machen wir mal wieder“, schlug der Junge vor.
Annemarie hatte keine Kinder und damit auch keine Enkelkinder. Doch in diesem Moment fühlte sie sich so ein bisschen wie eine echte Oma und sie hatte das starke Gefühl, als würde es in der kommenden zeit noch viele dieser glücklichen Momente für sie geben!


© Martina Pfannenschmidt, 2015