Freitag, 10. November 2017

Mach das Beste draus

Mit nur zwei Fingern hielt Vanessa zwei Topflappen in die Höhe:  „Mensch Omi“, rief sie aus, „diese alten Dinger kannst du aber wirklich mal entsorgen und dann noch dieeeese Farbe. Die sind einfach nur hässlich, Omilein.“
„Mag sein, dass sie in deinen Augen abgängig sind, aber die werde ich niemals in den Müll werfen, weil sie nämlich ein Andenken an meine Mutter sind.“
Vanessa wusste, dass sie ihrer Oma mit ihrer Bemerkung eine Steilvorlage geliefert hatte und auch, welcher Satz nun folgen würde.
„Hab ihr dir schon erzählt, dass sie eine grandiose Köchin war und erst ihre Torten! Für ihre Schwarzwälder Kirschtorte war sie berühmt!“
„Ja, Omilein, hast du schon erzählt.“
„So?!“
Es dauerte gar nicht lange, da schwelgte Oma in ihren Erinnerungen und ihre Enkelin hörte ihr aufmerksam zu. Sie wusste, dass sie von dem, was ihre Oma zu erzählen hatte, etwas für sich und ihr Leben mitnehmen konnte.
„Weißt du“, begann Oma, „meine Mutter war eine kluge Frau. Gerne wäre sie Grundschullehrerin geworden, doch sie war die Älteste von 10 Kindern. Da war zum einen kein Geld für ein Studium vorhanden und zum anderen wurde ihre Arbeitskraft im Haushalt benötigt. Die Frauen früher hatten selten das Glück, ihren Talenten und Begabungen folgen zu können. Bestimmt hat sich meine Mutter oft gefragt, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie zu einer anderen Zeit geboren worden wäre.“
„Hat sie mal mit dir darüber gesprochen?“
„Nein, nein. Sie war schon zufrieden mit ihrem Leben. Doch irgendwann fragen wir uns wohl alle, was wäre, wenn, nicht wahr? Doch sie musste sich als junges Mädchen halt um ihre Geschwister kümmern und ihre Mutter entlasten. Später hatte sie ihre eigenen Kinder und ihren Mann zu versorgen und wie selbstverständlich hat sie sich auch um ihre Eltern gekümmert, als sie alt waren und alleine nicht mehr zurecht kamen.“
„Denkst du, ihr wurde das manches Mal zu viel?“
„O ja, ganz sicher sogar. Doch sie hat nie geklagt. Sie hat uns immer gesagt, dass die Liebe, die wir anderen geben, auf uns zurückfällt. Und damit hat sie ganz sicher recht. Wenn ich an sie zurück denke, dann immer nur voller Liebe und Dankbarkeit. Sie war ein wirklich warmherziger und liebenswerter Mensch und eine wunderbare Mutter.“
„Das ist schön, wenn man das über jemanden sagen kann.“
Oma nickte.
„Weißt du, Kind, ich denke oft darüber nach, dass wir alle, wenn wir geboren werden, einen leeren Rucksack bei uns tragen. Doch vom ersten Atemzug an füllen wir ihn mit all den Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen und da kommt so einiges zusammen: Die Kindheit, die Jugend, das Erwachsenwerden, schlechte Ereignisse, Tiefpunkte, schmerzhafte Erlebnisse. Aber auch Schuld, die wir auf uns laden. Natürlich kommen auch all die Dinge in den Rucksack, die erfreulich sind. Schöne und glückliche Momente, Höhepunkte in unserem Leben, die den Rucksack leichter machen. Manch schwere Momente wiegen tatsächlich schwer. Sie belasten uns und irgendwann wird das Gewicht für uns tatsächlich problematisch. Dann hilft nur noch eins: Wir müssen den Rucksack öffnen und all die Dinge heraus nehmen, die uns so schwer belasten. Verletzungen, die uns zugefügt wurden oder Vorwürfe, die wir anderen Menschen gemacht haben: Raus damit, damit der Rucksack wieder leichter wird. Auch die Trauer um liebe Menschen belastet und macht das Gepäck schwer. Auch sie müssen wir irgendwann los lassen und in liebevolle Erinnerung wandeln, damit wir unter unserem schweren Gepäck nicht zusammen brechen.“
„Das ist ein schönes Bild, Omi. Hilfreich wäre wohl auch, die glücklichen Momente mehr wahr zu nehmen, um den Rucksack leichter zu machen. Ich glaube, ich muss auch mal nach meinem Gepäck schauen“, meinte Vanessa nachdenklich, „ich glaube, wenn wir Dinge verdrängen, liegen sie dennoch weit unten im Rucksack und machen ihn schwer.“
„Das hast du ganz richtig erkannt, mein Kind. Dinge zu verdrängen mag für eine kurze Zeit erfolgreich sein – oder besser gesagt, es mag so scheinen. Das ist aber ein Trugschluss. Wir müssen einfach an unsere Probleme herangehen und daran arbeiten.“
„Das sagt sich so einfach“, bekannte Vanessa, „aber ich kann dir sagen, einfach ist das nicht.“
„Die Erfahrung hab ich auch gemacht“, erwiderte Oma und musste ein bisschen über ihr kleines Küken schmunzeln. „Und noch etwas habe ich bemerkt: Für andere hab ich schnell eine Lösung für all ihre Probleme parat. Nur bei den Lösungen für mich selbst, da hapert es oft. Aber das ist wohl ganz normal und menschlich.“
„Omi?“
„Ja!“
„Wenn ich mir manche ältere Menschen anschaue, bekomme ich ein bisschen Angst vor dem Altern.“
„Ach, dass musst du nicht. Du wirst ja nicht von heute auf morgen alt. Es ist ja ein schleichender Prozess und du wirst langsam ans Alter herausgeführt. Manchmal ist es schon so, dass man in den Spiegel schaut und sich über sein Spiegelbild wundert. Man fühlt sich nämlich innen drin gar nicht so alt, wie es nach außen scheint. Vor allen Dingen musst du dir das Staunen, Träumen und Wünschen bewahren. Natürlich wünscht man sich mit 30 andere Dinge, als mit 80. In jungen Jahren wünschst du dir vielleicht, im Beruf erfolgreich zu sein, Geld für Reisen zur Verfügung zu haben oder eine Familie zu gründen.
Weißt du, wenn ich mittags in meinem gemütlichen Sessel sitze, um mich auszuruhen, denke ich oft an all die Wanderungen, die ich mit Opa gemacht habe und dann habe das Gefühl, ich könnte doch jetzt einfach vom Sessel aufspringen und losgehen. Doch wenn ich mich mühsam erhoben habe, weiß ich, dass diese Zeit vorüber ist. Trotzdem bin ich glücklich und nehme mein Alter an, damit mein Rucksack leicht bleibt. Wäre es anders, käme ein weiterer schwerer Stein in mein Gepäck. Es liegt also an dir, das Alter anzunehmen und nicht mit ihm zu hadern.“
„Mir scheint, Omilein, dass wir alle selbst für uns und unser Gepäck verantwortlich sind. Das werde ich mir für mein Leben merken.“
„Das freut mich, dass du das als Erkenntnis aus unserem Gespräch herausgezogen hast. Jedes Leben hält glückliche und traurige Momente bereit. Es liegt an uns, wie wir mit ihnen umgehen. Mach also das Beste aus deinem Leben, mein Kind!“



© Martina Pfannenschmidt, 2017