Almut
umklammerte den großen Becher Kaffee, den sie in ihren Händen hielt. Noch immer
war Winter und es hatte wieder einmal kräftig geschneit. Eine dicke weiße Haube
ruhte auf allen Bäumen und Pflanzen
und die Erde, in der sie wuchsen,
war vor Kälte erstarrt. So langsam aber sicher nervte Almut diese Jahreszeit, doch es half ja nichts. Das Einzige,
was ihr blieb, war der Blick nach vorne und die Gewissheit, dass der Frühling
kommen würde - irgendwann. Doch irgendwie gelang es ihr nicht, sich darüber zu freuen. Eher war das Gegenteil der
Fall. Wenn sie daran dachte, was sie sich alles für das neue Jahr vorgenommen
und wie wenig sie davon umgesetzt hatte, deprimierte sie das.
Sie
wollte so gerne einige Kilos abnehmen, damit sie im Frühjahr wieder in ihre
Lieblingshose passte. Doch statt ein paar Pfunde herunter zu bekommen, hatte
sich wieder eines dazu geschlichen. Aber das war ja eigentlich noch nicht
einmal ihr größtes Problem. Sie fühlte sich in ihrem Job nicht wohl. Zwar war
sie inzwischen auf eigenen Wunsch für die Terminvergaben zuständig und
arbeitete nicht mehr direkt mit ihrem Chef, einem Zahnarzt, zusammen. Doch das
änderte nichts daran, dass sie ihn als ungerecht empfand und seinen Launen
ausgesetzt war.
Almut
klangen die Worte ihrer Kollegin Ingeborg im Ohr: „Du siehst das alles viel zu kritisch. Die Hauptsache ist doch, dass
du einen Job hast und Geld verdienst. Wenn der Chef seinen schlechten Tag hat,
schalte doch einfach auf stur. Und überleg mal bitte, wohin du wechseln
möchtest. Wer nimmt uns denn noch in unserem Alter?“
Einerseits
hatte Ingeborg natürlich recht mit dem, was sie sagte, aber andererseits … Zum
einen gelang es Almut nicht, einfach wegzuhören, zum anderen hatte sie noch 10
Jahre zu arbeiten. Die konnten wirklich lang werden, wenn man seiner Arbeit
nicht mit Freude nachging. Irgendwie musste eine Lösung her – sie wusste nur
nicht, woher sie kommen sollte.
Damals,
als Almut gerade 16 Jahre alt gewesen und es darum gegangen war, sich für einen
Beruf zu entscheiden, hatten ihre Eltern ein gewaltiges Wörtchen mitgesprochen.
- Ihr Herz hatte schon immer für Tiere geschlagen. Wie gerne wäre sie
Tierarzthelferin geworden oder Tierpflegerin. Daran hätte sie Freude gehabt.
Doch ganz in der Nähe ihres Elternhauses gab es eine Zahnarztpraxis und die
suchten ausgerechnet zu der Zeit eine Auszubildende. Ihre Eltern hatten lange
auf sie eingeredet und ihr all die Vorteile aufgezeigt, die ein nahe gelegener
Arbeitsplatz bietet. Almut hatte es einfach nicht geschafft, sich zu
widersetzen. Wie auch, in dem Alter. In den folgenden Jahren hatte sie die
Praxen mehrfach gewechselt, doch glücklich war sie nirgendwo geworden.
„Unfassbar“,
sagte sie laut in die Stille hinein und erschrak selbst darüber. Es war
wirklich unfassbar, dass sie bald 40 Jahre in einem Beruf tätig war, der sie
nicht ausfüllte. Das konnte es doch nicht sein. Sie ging einer Arbeit nach, die
sie nicht liebte, kam nach einem anstrengenden Tag nach Hause, trank einen
Diät-Shake, der ihr nicht einmal schmeckte, setzte sich vor den Fernseher, um
sich Dinge anzuschauen, die sie nicht wirklich interessierten und ging
irgendwann frustriert ins Bett. Sie führte ein Leben, das sie sich so nie
vorgestellt hatte. Eigentlich wollte sie nichts weiter, als glücklich sein,
doch sie wusste einfach nicht, wie ihr das gelingen sollte.
Und
dann gab es da noch etwas, dass sie schmerzte. Nach zwei Langzeitbeziehungen
lebte sie nun schon seit einigen Jahren alleine. Auch das war ein Punkt, den
sie gerne geändert hätte. Doch auch hier wusste sie nicht, wie. Männer wachsen
nun mal nicht auf Bäumen und in ihrem Alter …
Während
sie einen Schluck Kaffee trank, liefen ihr heiß die Tränen über die Wangen.
Almut fühlte sich wie in einem Hamsterrad, aus dem sie nicht ausbrechen konnte.
– Tief in sich versunken saß sie am Küchentisch, als sie leise ihren Namen
hörte: „Almut?!“
„Ja!“,
sagte sie und drehte sich um. Doch es war niemand da. Wie auch – sie war ja
alleine.
„Such
mich nicht hinter, vor oder neben dir. Such mich in dir. Von dort spreche ich
zu dir.“
„Wer
bist du?“, fragte Almut verwirrt.
„Ich
bin deine innere Stimme, die du über Jahre nicht gehört hast. Du suchst einen
Ausweg aus all deinen Problemen? Dann hör mir zu. Jede Veränderung beginnt mit
dem ersten Schritt. Gut, das ist nicht wirklich etwas Neues. Auf der anderen
Seite ist es dir bisher jedoch noch nicht gelungen, diesen ersten Schritt in
die richtige Richtung zu tun.“
„Witzbold“,
dachte Almut.
„Das
habe ich gehört“, erwiderte die Stimme. „Du bist nur sauer auf mich, weil ich
recht habe. Ich kenne dich gut, denn ich bin du und du bist ich. – Lass uns
also auf deine Probleme schauen. Du möchtest abnehmen und versuchst es immer
und immer wieder mit einer Methode von der du weißt, dass du scheitern wirst.
Warum sollte etwas beim 100. Mal klappen, wenn es 99 Male davor schief gegangen
ist? Wir können also festhalten: Du bist in dieser Sache auf dem falschen Weg.
Wie wäre es denn, wenn du dich abends nicht vor den Fernseher setzt, sondern einen
Spaziergang machst. Du weißt es doch: Bewegung und gesunde Ernährung sind der
Schlüssel zum Erfolg.“
Natürlich
war Almut das alles nicht neu, doch die Umsetzung war nicht so einfach. Sie
könnte ja mal Ingeborg fragen, ob sie nicht gemeinsam an die Sache herausgehen
wollten. Und schon waren ihre Gedanken bei ihrem Job. „Wie soll ich denn hier
etwas verändern?“, fragte sie. „Ich hab doch nichts anderes gelernt, gab sie
der Stimme zu verstehen und bedenke bitte mein Alter!“
„Manchmal
hilft es schon, den Gedanken eine andere Richtung zu geben. Wenn du immer dein
Alter vorschiebst, wird es mit einer Veränderung wohl nicht klappen. Wenn dir
dein Job missfällt, schau und hör dich um. Wenn es der Zufall möchte, findet
sich etwas. Aber du musst tätig werden – einen Schritt tun – und sei es nur,
die Augen und Ohren offen zu halten.“
„Aber
in meinem Alter“, wiederholte Almut gedanklich, „tut man sich mit Veränderungen
halt schwer.“
„Gut,
dann bleibt alles, wie es ist!“, entgegnete die Stimme spitz. „Es ist dein
Wille und der wird geschehen.“
Oh
Mann, diese Stimme war echt penetrant.
Almut
sah auf ihre Armbanduhr. 15 Uhr am Sonntagnachmittag. Es war zwar kalt, aber
die Sonne schien. Vielleicht sollte sie hinaus fahren an den Weiher. Aber zu
dieser Zeit bekam man dort bestimmt keinen Parkplatz mehr.
„Almut“,
flehte die Stimme, „das denkst du jedes Mal. Versuch es doch einfach. Du wirst
ganz sicher einen Parkplatz finden.“
Als
sie eine halbe Stunde später um den Weiher ging, kamen zwei Hunde direkt auf
sie zu gerannt. „Na, ihr seid ja ausgelassen“, sprach sie die beiden an, die
sich sogleich gerne von ihr kraulen ließen.
An
dieser Stelle wäre es natürlich interessant, zu erfahren, wie Almut reagiert,
wenn sie von dem Halter der beiden Ausreißer erfährt, dass er ein Tierarzt ist,
der händeringend nach einer Ersatzkraft für eine schwangere Angestellte sucht,
die in seiner Praxis für die Terminvergaben zuständig ist. Doch noch
faszinierender wäre es wohl, Kenntnis davon zu erlangen, ob es das Leben
wirklich schafft, diese beiden Menschen wie geplant auch privat zusammen zu
führen. Doch leider gibt es keinen weiteren Einblick in Almuts Leben. Eines
steht allerdings fest: Es ist gut, dass sie ihrer inneren Stimme gefolgt ist!
©
Martina Pfannenschmidt, 2017