Freitag, 10. November 2017

Die innere Stimme

Almut umklammerte den großen Becher Kaffee, den sie in ihren Händen hielt. Noch immer war Winter und es hatte wieder einmal kräftig geschneit. Eine dicke weiße Haube ruhte auf allen Bäumen und Pflanzen und die Erde, in der sie wuchsen, war vor Kälte erstarrt. So langsam aber sicher nervte Almut diese Jahreszeit, doch es half ja nichts. Das Einzige, was ihr blieb, war der Blick nach vorne und die Gewissheit, dass der Frühling kommen würde - irgendwann. Doch irgendwie gelang es ihr nicht, sich darüber zu freuen. Eher war das Gegenteil der Fall. Wenn sie daran dachte, was sie sich alles für das neue Jahr vorgenommen und wie wenig sie davon umgesetzt hatte, deprimierte sie das.
Sie wollte so gerne einige Kilos abnehmen, damit sie im Frühjahr wieder in ihre Lieblingshose passte. Doch statt ein paar Pfunde herunter zu bekommen, hatte sich wieder eines dazu geschlichen. Aber das war ja eigentlich noch nicht einmal ihr größtes Problem. Sie fühlte sich in ihrem Job nicht wohl. Zwar war sie inzwischen auf eigenen Wunsch für die Terminvergaben zuständig und arbeitete nicht mehr direkt mit ihrem Chef, einem Zahnarzt, zusammen. Doch das änderte nichts daran, dass sie ihn als ungerecht empfand und seinen Launen ausgesetzt war.
Almut klangen die Worte ihrer Kollegin Ingeborg im Ohr: „Du siehst das alles viel zu kritisch. Die Hauptsache ist doch, dass du einen Job hast und Geld verdienst. Wenn der Chef seinen schlechten Tag hat, schalte doch einfach auf stur. Und überleg mal bitte, wohin du wechseln möchtest. Wer nimmt uns denn noch in unserem Alter?“
Einerseits hatte Ingeborg natürlich recht mit dem, was sie sagte, aber andererseits … Zum einen gelang es Almut nicht, einfach wegzuhören, zum anderen hatte sie noch 10 Jahre zu arbeiten. Die konnten wirklich lang werden, wenn man seiner Arbeit nicht mit Freude nachging. Irgendwie musste eine Lösung her – sie wusste nur nicht, woher sie kommen sollte.
Damals, als Almut gerade 16 Jahre alt gewesen und es darum gegangen war, sich für einen Beruf zu entscheiden, hatten ihre Eltern ein gewaltiges Wörtchen mitgesprochen. - Ihr Herz hatte schon immer für Tiere geschlagen. Wie gerne wäre sie Tierarzthelferin geworden oder Tierpflegerin. Daran hätte sie Freude gehabt. Doch ganz in der Nähe ihres Elternhauses gab es eine Zahnarztpraxis und die suchten ausgerechnet zu der Zeit eine Auszubildende. Ihre Eltern hatten lange auf sie eingeredet und ihr all die Vorteile aufgezeigt, die ein nahe gelegener Arbeitsplatz bietet. Almut hatte es einfach nicht geschafft, sich zu widersetzen. Wie auch, in dem Alter. In den folgenden Jahren hatte sie die Praxen mehrfach gewechselt, doch glücklich war sie nirgendwo geworden.
„Unfassbar“, sagte sie laut in die Stille hinein und erschrak selbst darüber. Es war wirklich unfassbar, dass sie bald 40 Jahre in einem Beruf tätig war, der sie nicht ausfüllte. Das konnte es doch nicht sein. Sie ging einer Arbeit nach, die sie nicht liebte, kam nach einem anstrengenden Tag nach Hause, trank einen Diät-Shake, der ihr nicht einmal schmeckte, setzte sich vor den Fernseher, um sich Dinge anzuschauen, die sie nicht wirklich interessierten und ging irgendwann frustriert ins Bett. Sie führte ein Leben, das sie sich so nie vorgestellt hatte. Eigentlich wollte sie nichts weiter, als glücklich sein, doch sie wusste einfach nicht, wie ihr das gelingen sollte.
Und dann gab es da noch etwas, dass sie schmerzte. Nach zwei Langzeitbeziehungen lebte sie nun schon seit einigen Jahren alleine. Auch das war ein Punkt, den sie gerne geändert hätte. Doch auch hier wusste sie nicht, wie. Männer wachsen nun mal nicht auf Bäumen und in ihrem Alter …
Während sie einen Schluck Kaffee trank, liefen ihr heiß die Tränen über die Wangen. Almut fühlte sich wie in einem Hamsterrad, aus dem sie nicht ausbrechen konnte. – Tief in sich versunken saß sie am Küchentisch, als sie leise ihren Namen hörte: „Almut?!“
„Ja!“, sagte sie und drehte sich um. Doch es war niemand da. Wie auch – sie war ja alleine.
„Such mich nicht hinter, vor oder neben dir. Such mich in dir. Von dort spreche ich zu dir.“
„Wer bist du?“, fragte Almut verwirrt.
„Ich bin deine innere Stimme, die du über Jahre nicht gehört hast. Du suchst einen Ausweg aus all deinen Problemen? Dann hör mir zu. Jede Veränderung beginnt mit dem ersten Schritt. Gut, das ist nicht wirklich etwas Neues. Auf der anderen Seite ist es dir bisher jedoch noch nicht gelungen, diesen ersten Schritt in die richtige Richtung zu tun.“
„Witzbold“, dachte Almut.
„Das habe ich gehört“, erwiderte die Stimme. „Du bist nur sauer auf mich, weil ich recht habe. Ich kenne dich gut, denn ich bin du und du bist ich. – Lass uns also auf deine Probleme schauen. Du möchtest abnehmen und versuchst es immer und immer wieder mit einer Methode von der du weißt, dass du scheitern wirst. Warum sollte etwas beim 100. Mal klappen, wenn es 99 Male davor schief gegangen ist? Wir können also festhalten: Du bist in dieser Sache auf dem falschen Weg. Wie wäre es denn, wenn du dich abends nicht vor den Fernseher setzt, sondern einen Spaziergang machst. Du weißt es doch: Bewegung und gesunde Ernährung sind der Schlüssel zum Erfolg.“
Natürlich war Almut das alles nicht neu, doch die Umsetzung war nicht so einfach. Sie könnte ja mal Ingeborg fragen, ob sie nicht gemeinsam an die Sache herausgehen wollten. Und schon waren ihre Gedanken bei ihrem Job. „Wie soll ich denn hier etwas verändern?“, fragte sie. „Ich hab doch nichts anderes gelernt, gab sie der Stimme zu verstehen und bedenke bitte mein Alter!“
„Manchmal hilft es schon, den Gedanken eine andere Richtung zu geben. Wenn du immer dein Alter vorschiebst, wird es mit einer Veränderung wohl nicht klappen. Wenn dir dein Job missfällt, schau und hör dich um. Wenn es der Zufall möchte, findet sich etwas. Aber du musst tätig werden – einen Schritt tun – und sei es nur, die Augen und Ohren offen zu halten.“
„Aber in meinem Alter“, wiederholte Almut gedanklich, „tut man sich mit Veränderungen halt schwer.“
„Gut, dann bleibt alles, wie es ist!“, entgegnete die Stimme spitz. „Es ist dein Wille und der wird geschehen.“
Oh Mann, diese Stimme war echt penetrant.
Almut sah auf ihre Armbanduhr. 15 Uhr am Sonntagnachmittag. Es war zwar kalt, aber die Sonne schien. Vielleicht sollte sie hinaus fahren an den Weiher. Aber zu dieser Zeit bekam man dort bestimmt keinen Parkplatz mehr.
„Almut“, flehte die Stimme, „das denkst du jedes Mal. Versuch es doch einfach. Du wirst ganz sicher einen Parkplatz finden.“
Als sie eine halbe Stunde später um den Weiher ging, kamen zwei Hunde direkt auf sie zu gerannt. „Na, ihr seid ja ausgelassen“, sprach sie die beiden an, die sich sogleich gerne von ihr kraulen ließen.
An dieser Stelle wäre es natürlich interessant, zu erfahren, wie Almut reagiert, wenn sie von dem Halter der beiden Ausreißer erfährt, dass er ein Tierarzt ist, der händeringend nach einer Ersatzkraft für eine schwangere Angestellte sucht, die in seiner Praxis für die Terminvergaben zuständig ist. Doch noch faszinierender wäre es wohl, Kenntnis davon zu erlangen, ob es das Leben wirklich schafft, diese beiden Menschen wie geplant auch privat zusammen zu führen. Doch leider gibt es keinen weiteren Einblick in Almuts Leben. Eines steht allerdings fest: Es ist gut, dass sie ihrer inneren Stimme gefolgt ist!

© Martina Pfannenschmidt, 2017