Schneidend pfiff der Wind um die Häuserecken und wirbelte
dabei den Pulverschnee auf. Der Winter zeigte sich noch einmal von seiner
garstigen und unbarmherzigen Seite. Doch nur ein paar Tage später wurde es merklich
milder. Der Himmel wartete mit seinem schönsten Blau auf und die Sonne schickte
ihre wärmenden Strahlen Richtung Erde. Allerorten war ein ‚Plitsch’ und
‚Platsch’ zu hören. Der Schnee schmolz und tropfte von den Dächern der Häuser.
Plitsch! Platsch!
Große mit kleinen weißen Blümchen bewachsene
Flächen wurden frei - Schneeglöckchen, diese zarten Geschöpfe, die dem Winter
trotzen und verkünden, dass, wenn sie
Abschied nehmen, viele andere Blumen kommen werden.
Der kleine Bach gluckste und gurgelte vor Freude, weil
er die Schneeschmelze zu ihrem Ursprung, dem Meer, bringen durfte. - Bald zog
sich der Winter ganz zurück und überließ dem Frühling das Feld.
Nun dauerte es nicht mehr lange, da reckte und
streckte auch Floretta ihre müden Glieder. Sie hatte ziemlich lange geschlafen
und noch fiel es ihr schwer, die Augen zu öffnen. Als es ihr jedoch gelang, erschrak
sie ein wenig. „Es ist ziemlich dunkel hier“, sprach sie zu sich selbst und
versuchte, sich trotz der Finsternis zu orientieren. Bald war ihr, als höre sie
eine feine Stimme, die aus ihr heraus sprach: „Du musst wachsen, Floretta, hin
zum Licht.“
‚Wachsen? Okay, ich versuche es’, dachte sie. Noch
ein bisschen zaghaft streckte sie ihr Köpfchen nach oben und bemerkte sehr bald,
wie anstrengend es war, zu wachsen. Immer wieder musste sie eine kleine Pause
einlegen, um Kraft zu schöpfen. Doch irgendwann geschah das Unfassbare. Sie
stieß mit ihrem Köpfchen durch die letzte Erdschicht und sah die Sonne. Zum
ersten Mal in ihrem Leben nahm sie das Licht wahr. Dafür hatte sich jede Anstrengung
gelohnt.
Bald darauf regte sich die Erde neben ihr. „He“,
rief ihr jemand zu, „du stehst mir im Weg.“ Floretta sah sich um und entdeckte
ein weiteres Köpfchen neben sich und noch eines und noch eines. Alle riefen
durcheinander: „Mach Platz!“ oder „Geh an die Seite!“ oder „Ich war zuerst
hier!“
Die Sonne lächelte und rief ihnen zu: „Hallo, all
ihr lieben Narzissen, ihr müsst nicht drängeln. Es ist genug Platz und Licht
für euch alle da. Wie schön, dass ihr da seid, um mit euren klanghellen Glöckchen
den Frühling zu verkünden.“
Sogleich wurde es stiller. Jeder nahm nun Rücksicht
auf den anderen und noch etwas geschah: Sie alle bemerkten, dass sie sich nur
durch ihr Gegenüber erkannten. Alle waren sie wunderschön in ihrer Form und
Farbe und freuten sich über ihr Leben im Licht.
„Da seid ihr ja endlich“, riefen nun auch die Blausternchen,
„wir haben schon auf euch gewartet.“
Unsäglich viele Tulpen reckten ihre roten und
gelben Köpfchen gen Himmel. Es hatte fast den Anschein, als wollten sie mit
ihren nach oben geöffneten Blütenkelchen dem Schöpfer für ihr Leben danken.
Inzwischen war Floretta zu voller Schönheit
erblüht. Vorsichtig sah sie sich in alle Richtungen um. Sie konnte sich gar
nicht satt sehen an all den Farben um sie herum. Der blaue Himmel, das grüne
Gras und all die vielen bunten Blumen, die sich um sie herum tummelten. Und wie
das duftete. Verschwenderisch verschenkte auch sie ihren Duft, der bald kleine
Insekten und Hummeln anlockte. Das war ein Summen und Brummen, wie sie es noch
nie gehört hatte.
Kleine Lämmchen sprangen übermütig über die Wiese
und vollführten ihre ersten Bocksprünge. - Doch was war das? Floretta vernahm
ein leises Schnarchen. Es war ihr, als käme es aus dem Laubhaufen, der sich
unter der Buchenhecke befand. Ob es da jemanden gab, der den Frühling
verschlief? Sogleich läutete sie mit ihrem Glöckchen und bald darauf kam
Bewegung in den Blätterhaufen. Vorsichtig streckte ein kleiner Igel seine Nase
in den Wind.
„Komm nur heraus“, rief Floretta aufmunternd, „der
Frühling hat Einzug gehalten.“ Der Langschläfer bedankte sich bei der Narzisse
und lief schnell Richtung Bach, um seinen Durst zu stillen.
Bald darauf krabbelte ein kleiner roter
Marienkäfer an der Narzisse empor. Floretta kicherte, weil es sie ein bisschen
kitzelte.
„Du, Floretta, darf ich dich etwas fragen?“
„Nur zu!“, ermunterte die Blume den Käfer.
„Bist du eigentlich glücklich mit deinem Leben?“
Darüber musste die Narzisse gar nicht lange
nachdenken: „Schau dich nur um“, forderte sie den Käfer auf, „natürlich bin ich
glücklich. Das Leben ist so bunt, voller Freude und Sonnenschein.“
„Ich dachte nur“, druckste der Marienkäfer herum,
„weil du immer hier an deinem Platz stehst und dich nicht fortbewegen kannst,
wärst du vielleicht ein bisschen traurig.“
„Aber nein. Du musst einfach nur der sein wollen,
der du bist – und kein anderer. Ich bin mir sicher, dass alles gut ist, so wie
es ist; denn wenn es so, wie es ist, nicht gut wäre, glaube mir, dann wäre es
anders.“
Der Käfer schaute zunächst ein bisschen verdutzt,
doch dann fragte er: „Du meinst also, der Platz an dem wir uns befinden, der
ist immer genau richtig für uns?“
„Ja, so meine ich das.“
Beide schwiegen eine Weile, doch als eine Ameise
vorüber krabbelte, die mit einer schweren Last auf dem Rücken unterwegs war,
zeigte der Käfer auf sie.
„Aber schau dir diese Ameise an. Ihr Leben besteht
aus Mühe und Arbeit. Denkst du, sie ist dennoch glücklich?“
„Weißt du“, entgegnete die Narzisse, „ich habe
viel Zeit, um die Dinge um mich herum zu beobachten. Diese Ameise dort ist eine
Arbeiterin, die für die Beschaffung von Nahrung für ihr Volk und den Nachwuchs
zuständig ist. Sie arbeitet sozusagen im Außendienst und sie weiß genau, dass dies
ihre Aufgabe ist und sie lässt sich durch nichts und von niemandem davon
abhalten. Liegt ein dicker Stein auf ihrem Weg, so bleibt sie nicht stehen und
klagt darüber. Nein, sie krabbelt um ihn herum oder über ihn hinweg. Steht ein noch
größeres Hindernis vor ihr, so sucht sie wieder nach einem Ausweg. Sie gibt
niemals auf, um dorthin zu gelangen, wo sie ankommen möchte und sie weiß genau,
was sie an ihrem Platz zu tun hat und exakt das tut sie auch. Ich frage dich:
Weshalb sollte sie das unglücklich machen, wenn sie das tut, wozu sie geboren
wurde?“
Der Marienkäfer dachte über alles nach, was er
gehört hatte. Bevor er der Abendröte entgegen flog, rief er der Narzisse zu: „Tschüss
Floretta und Danke! Ich habe heute viel von dir gelernt.“
„Ja, was denn?“, fragte die Narzisse erstaunt.
„Na, dass das Leben viele einzigartige und
kunterbunte Geschichten schreibt!“
© Martina Pfannenschmidt, 2017