Freitag, 10. November 2017

Eine Brieffreundschaft

                             
Marlies war 60 Jahre alt und Sekretärin  eines großen Konzerns. Keiner konnte so gut mit dem mürrischen Chef umgehen, wie sie. Ohne Marlies lief es in ihrer Abteilung nicht rund. Alle konnten sich immer auf sie verlassen.
Da Marlies unverheiratet war, wartete am Abend niemand auf sie und so machte sie manche Überstunde, für die ihr niemand dankte. Dennoch ging sie in ihrer Arbeit auf. Sie war sehr beliebt, nicht nur unter den Kollegen. Auch der stieselige Chef schätzte sie und ihre Arbeit, auch wenn er es ihr nur selten zeigte.
Marlies hatte schon viele Kollegen kommen und gehen sehen. Doch sie blieb und war die gute Seele des Hauses. Momentan war Julia als Auszubildende in ihrer Abteilung. Trotz des Altersunterschiedes verstanden sich die zwei ausgesprochen gut. So kam es auch des Öfteren vor, dass sie ihre Mittagspause gemeinsam verbrachten. Bei gutem Wetter gingen sie gerne in den nahe gelegenen Park, setzten sich auf eine Bank, genossen die Sonne und verspeisten ihre mitgebrachten Brote. So auch heute.
Julia hörte gern die Geschichten, die Marlies aus ihren Anfängen im Job erzählte. Dass es damals noch keinen Computer gab, noch nicht einmal ein Faxgerät. Natürlich gab es auch noch keine Handys und von einer E-Mail hatte auch noch niemand etwas gehört.
„Ich kann mir das gar nicht vorstellen“, meinte Julia. „Wie hat man sich denn verabredet?“
„Also, trommeln mussten wir auch nicht mehr“, sagte Marlies und lachte. „Das Telefon war schon erfunden. Doch die Gespräche – gerade Ferngespräche – waren sehr teuer.
Damals schrieb man sich noch Briefe“.
Marlies schaute verträumt zu einem Rosenbusch.
„Woran denkst du?“, fragte Julia.
„Ach weißt du, Kind, es ist schon so lange her. Aber wenn ich daran zurück denke, dann ist es so, als wäre es gerade gestern gewesen.“
 „Was denn?“, drängte Julia. „Erzähl!“
„Als ich so alt war wie du jetzt, also gerade 20“, erzählte Marlies, „da hatte ich Interesse daran, schwedisch zu lernen. Ich mochte das Land und war dort einmal mit meinen Eltern, um Urlaub zu machen. Der Dozent der Volkshochschule hatte einige Adressen von schwedischen jungen Leuten, die ihrerseits die deutsche Sprache erlernen wollten. Er verteilte die Adressen und ich bekam die von Inge Johansson zugeteilt. Der erste Brief gestaltete sich auf beiden Seiten schwierig. Zum einen war es jeweils so ein Mischmasch aus Deutsch und Schwedisch – zum anderen kannte man sich ja noch gar nicht und man wusste nicht so recht, was man schreiben sollte.“
„Das ist ja spannend“, meinte Julia. „Ich hatte noch nie eine Brieffreundin. Erzähl weiter. Hast du sie irgendwann kennen gelernt?“
„Nur langsam“, mahnte Marlies, „ich erzähl ja schon, wie es weiter ging. Also, die Briefe wurden im Laufe der Zeit immer zahlreicher und man erzählte immer persönlichere Dinge. Zumindest war es auf meiner Seite so. Ich habe Inge von dem jungen Mann erzählt, der in der Berufsschule in meiner Nähe saß und in den ich heimlich verliebt war. Inge war zurückhaltender. Sie erwähnte niemals einen Freund. Ich hatte ihr ein Foto von mir geschickt, doch sie schickte keins von sich. Ich dachte mir weiter nichts dabei.“
„Da warst du sicher enttäuscht“, sprach Julia dazwischen.
„Ja, irgendwie hätte ich mir schon gern ein Bild von Inge gemacht, aber ich konnte es ja nicht erzwingen“, sagte Marlies. „Irgendwann kam dann der Tag, an dem sie mich zu sich einlud. Ich war damals gerade 21 Jahre alt geworden und damit volljährig. So brauchte ich nicht mehr die Erlaubnis meiner Eltern und reiste tatsächlich nach Uppsala, um Inge zu besuchen.
Nach einer langen und anstrengenden Reise stieg ich aus dem Zug und schaute mich nach Inge um. Da ich aber niemals ein Foto von ihr gesehen hatte, war es für mich natürlich unmöglich, sie zu finden.“
„Und“, sprach Julia in die Pause hinein, die Marlies an dieser Stelle eingelegt hatte. „War sie hübsch oder hässlich – erzähl.“
„Als ich also dort suchend stand, kam plötzlich ein junger Mann auf mich zu. Er trug Jeans und eine flotte Jacke. Allerdings fielen mir als Erstes seine langen blonden Locken auf. Er gefiel mir auf Anhieb. Dann stellte sich der junge Mann vor“, sagte Marlies.
„Das war ja frech, der kannte dich doch gar nicht. Was wollte der denn von dir? Oder war es etwa der Bruder von Inge?“, forschte Julia nach.
„Er stellte sich vor“, sprach Marlies ruhig weiter, „mit seinem Namen“.
„Na, wie denn sonst“, mischte sich Julia ein.
„Er stellte sich vor mit: Inge Johansson!“
„Wie jetzt?“, Julia war irritiert.
„Inge ist in Schweden ein männlicher Vorname“, löste Marlies das Geheimnis. „Ich hatte mich die ganze Zeit mit einem jungen Mann geschrieben und ihm meine geheimsten Gedanken mitgeteilt. Wie angewurzelt blieb ich auf dem Bahnsteig stehen. Ich konnte nicht glauben, was gerade passierte. Deshalb kam nie ein Foto. Inge hatte Angst gehabt, dass ich dann die Brieffreundschaft beenden würde.“
„Das gibt’s doch nicht!“, entfuhr es Julia. „Und, wie ging es weiter?“
„Wir hatten wundervolle 14 Tage und waren bis über beide Ohren ineinander verliebt. Doch die Entfernung war zu groß. Ich wollte nicht nach Schweden ziehen und Inge nicht nach Deutschland. Wir haben uns dann noch eine ganze Weile geschrieben, doch irgendwann hat er sich in eine Schwedin verliebt und die Briefe blieben aus. Leider habe ich nie wieder jemanden kennen gelernt, der mir so gut gefiel und deshalb hab ich nie geheiratet. Ist aber nicht so tragisch“, meinte Marlies gut gelaunt, „ich habe ja dich und meinen Job, mit dem ich verheiratet bin.“
Die Mittagspause war zu Ende. Beide Frauen gingen schweigend zurück an ihren Arbeitsplatz. Marlies ging ein Lied nicht mehr aus dem Kopf, das sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte:

„Die Liebe ist ein seltsames Spiel, ..."

                                              
© Martina Pfannenschmidt, 2014