Freitag, 10. November 2017

Ein Traummann

Sie stand vor dem Traualtar und hörte sich laut  und deutlich ‚Ja’ sagen.
Ja, sie wollte mit diesem Mann den Rest ihres Lebens verbringen. Hans und Silvia waren seit einem Jahr ein Paar.
Das war zwar eine kurze Zeit, doch beide waren sicher, dass es der richtige Schritt war. Sie waren so verliebt und wollten heute ihre Liebe besiegeln. Ein wunderbares Leben würde auf sie beide warten. Da war Silvia sicher.
Sie freute sich sehr auf das gemeinsame Leben und auf Kinder. Es war ihr größter Wunsch, einmal Kinder zu haben und Hans war genau der richtige Mann, um der Vater ihrer Kinder zu sein.
Inzwischen war der Alltag in ihr Leben eingezogen, doch alles war so, wie es sich Silvia immer erträumt hatte. Hans war liebevoll und zuvorkommend. Immer darum bemüht, dass es ihr auch wirklich gut ging. Er sprang vom Sofa auf, nur um ihr den Wäschekorb abzunehmen.
„Der ist doch viel zu schwer für dich“, waren seine Worte.
Dabei war sie weder krank noch schwanger und hätte das gut geschafft. Doch Silvia ließ sich gern verwöhnen.
Jetzt im Winter sorgte er dafür, dass sie auf keinen Fall frieren musste. Er machte Feuer im Kamin und sie saßen davor und führten lange Gespräche. Darüber, wie sie sich ihr gemeinsames weiteres Leben vorstellten und wie es sein würde, wenn sie Kinder hätten. Doch jetzt wollten sie zuerst einmal verreisen. Hans hatte Kataloge aus dem Reisebüro besorgt.
„Wohin sollen wir denn fahren?“, fragte ihn Silvia und er antwortete:  „Wohin du möchtest. Ich fahre überall mit dir hin. Denn da wo du bist, da möchte ich auch sein. Und wenn du glücklich bist, dann bin ich es auch.“
Silvia war es warm geworden um ihr Herz bei diesen Worten. Welche Frau hätte in dem Moment nicht gerne mit ihr getauscht. Er war ein warmherziger und großzügiger Mensch und ihr Ehemann.
Es war kalt geworden. Silvia war auf dem Weg zur Bushaltestelle und überlegte kurz, ob die Zeit reichte zurück nach Hause zu gehen, um sich noch einen Schal und eine Mütze zu holen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es dann knapp werden würde. Sie zog den Kragen ihres Mantels höher, doch ihr war kalt.
In dem Augenblick hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Sie drehte sich um und sah Hans auf sich zukommen. Im Laufschritt war er unterwegs und hielt ihren Schal und eine Mütze in seinen Händen. In Hausschuhen war er ihr gefolgt und hatte selbst seine Jacke vergessen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie war ein Glückskind.
BBBBrrrrrrr.
Jäh riss der Wecker sie aus ihrem Traum. Schnell stellte sie das Klingeln ab. Sie musste sich zunächst sammeln. Dann sah sie in das Nachbarbett. Hans öffnete kurz ein Auge und murrte: „Los, steh auf und koch mir einen Kaffee, ich habe Kopfweh“.
Silvia sah ihn an. Seine Haare waren zerzaust, sein Gesicht seit Tagen unrasiert und eine Alkoholfahne ging von ihm aus. Wieder einmal hatte er zuviel getrunken am gestrigen Abend.
Sie stand auf, ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Ihr Auge war blutunterlaufen. Er hatte sie geschlagen.
„Gut, dass wir keine Kinder haben“, ging Silvia durch den Kopf.
Langsam machte sie sich fertig, ging ins Wohnzimmer, nahm den Koffer, den sie heimlich gepackt und hinter dem Schrank versteckt hatte und verließ leise die Wohnung.
Es hätte wirklich so schön sein können – doch leider war alles nur ein Traum.

© Martina Pfannenschmidt, 2014