Freitag, 10. November 2017

Das letzte Blatt am Baum

Es war einer dieser schaurig-schönen Herbsttage. Draußen stürmte es und drinnen loderte das Feuer und es war gemütlich und warm. Rudi hatte einen Tee gekocht – Fencheltee. Den mochte seine Lilly am liebsten. Seiner Frau ging es schon lange nicht gut. Sie konnte seit Tagen ihr Bett nicht mehr verlassen. Jetzt hatte der Hausarzt auch noch eine Lungenentzündung festgestellt.
Er verordnete starke Medikamente, doch der Husten wollte und wollte nicht weichen. Lilly wurde immer schwächer und Rudi fürchtete, seine Frau zu verlieren. Was sollte er denn ohne sie machen? Ein Leben ohne seine Lilly war für Rudi unvorstellbar.
Rudi hörte Lilly husten. Als er das Zimmer betrat, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Er war der beste Mann der Welt. Das hatte sie immer schon gewusst.
Heute wollte sie mit ihm reden, ihn darauf vorbereiten, wie es sein würde, wenn sie nicht mehr bei ihm sein könnte. Rudi stellte den Tee auf den Nachttisch. „Fencheltee“, sagte er, „damit es dir bald wieder besser geht.“
Er war kein Mann der vielen Worte, das wusste Lilly und dass er sie immer noch liebte, genau wie sie ihn, das wusste sie, auch wenn er es ihr nicht sagen konnte. Es lag ihm einfach nicht. Sie wusste seine Liebe aber an seinen Gesten abzulesen.
„Rudi“, sagte Lilly, „wenn ich bald gehen muss, dann darfst du dich nicht hier im Haus verkriechen. Das musst du mir versprechen.“
„Hör auf Lilly“, fuhr Rudi sie an. „Ich will davon nichts hören. Nachher bringe ich dir noch Hühnersuppe und du nimmst deine Medikamente und dann wird es bald besser.“
Lilly sah nach draußen. Vor dem Fenster stand ein wunderschöner alter Baum. Als sie damals das Haus bauten, da hatte Rudi diesen Baum gepflanzt. ‚Als Zeichen unserer Liebe’, sagte er damals und  - ‚solange dieser Baum steht, solange wird unsere Liebe bestehen.’
„Sieh dir den Baum an“, bat Lilly ihren Mann. „Ein Blatt hängt noch daran. Solange dieses Blatt dort hängt, werde ich noch bei dir sein. Wenn es herunterfällt, dann werde ich gehen müssen.“
Rudi wusste, dass kaum eine Chance bestand, dass dieses Blatt den Sturm überstehen würde, doch er betete inständig, es möge hängen bleiben.
Es wurde dunkel und Rudi ließ die Rollläden herunter. Zum Abend brachte er Lilly dann die versprochene Hühnersuppe und später ging er schlafen.
Am nächsten Morgen brachte Rudi das Frühstück. Er zog die Rollläden hoch und Lilly sah aus dem Fenster. Das Blatt hing noch an seinem Platz und der Sturm hatte sich gelegt. Sollte das ein Zeichen sein? Ein Zeichen dafür, dass sie doch noch gesund werden sollte?
Tag für Tag vollzog sich das Ritual. Rudi brachte das Frühstück, zog die Rollläden hoch und Lilly betrachtete ungläubig das Blatt. Doch etwas veränderte sich. Lilly ging es zunehmend besser. Die Medikamente zeigten Wirkung und Rudis Hühnersuppe tat ihr übriges. Sie würde wieder gesund werden. Der Arzt hatte es bestätigt. So unglaublich es auch war: Das Blatt war immer noch da.
„Ist es nicht ungewöhnlich“, sagte Lilly als es schon Richtung Frühjahr ging und sie das Bett bereits für längere Zeit verlassen konnte, „dass das Blatt immer noch am Baum hängt?“
Ja“, dachte Rudi, „es hängt immer noch dort.“ Und gleichzeitig fragte er sich, ob seine Lilly wohl noch bei ihm wäre, wenn er das Blatt damals in der Nacht des Sturmes nicht mit Draht am Zweig befestigt hätte.
  
© Martina Pfannenschmidt, 2014