Kathrin bog mit
ihrem Fahrrad rasant um die Hausecke und stellte es dort ab. Sie kam von ihrer
Freundin Maren, mit der sie den Nachmittag verbracht hatte. Schnellen Schrittes
lief sie ins Haus und steuerte schnurstracks Omas Wohnzimmer an.
Marens Papa
hatte eben einen Ausdruck benutzt, den Kathrin nicht kannte und den Oma ihr
erklären sollte. Bestimmt saß sie in ihrem Zimmer und las ein Buch. Schwungvoll
öffnete das Mädchen die Tür. Oma saß an ihrem Platz. So mochte Kathrin es am
liebsten. Das gab ihr Halt und Sicherheit. Wenn sonst niemand da war, Oma war
da und noch etwas: Sie hatte immer Zeit!
„Du Omi“,
polterte Kathrin drauf los, „der Bruder von Maren hatte eben seine erste
Fahrstunde. Als er nach Hause kam, hat Marens Papa gesagt: ‚Nun hat er die Feuerprobe schon
bestanden’. Ich habe dieses Wort noch nie gehört. Weißt du was es bedeutet?“
Oma Sophie
legte ihr Buch zur Seite, sah Kathrin liebevoll an und antwortete: „Ja, ich
weiß, was es bedeutet. Man sagt es, wenn jemand etwas zum ersten Mal gemacht
und gut überstanden hat. Dann heißt es, er hat seine Feuerprobe bestanden.“
„Echt!?“, erwiderte
Kathrin überrascht. „Das habe ich wirklich noch nie gehört.“
„Das wird dir
wohl noch öfter so ergehen. Du wirst immer wieder Dinge hören und erfahren, die
neu für dich sind. So geht es mir ja heute noch“, scherzte Oma und führte
weiter aus, „ursprünglich hatte die Feuerprobe eine ganz andere Bedeutung.“
„Welche?“,
wollte Kathrin sogleich wissen.
„Man hatte im
Mittelalter sehr eigenwillige Methoden um die Wahrheit ans Licht zu bringen“,
erzählte Oma. „Stell dir einen Mann vor, dem vorgeworfen wird, etwas gestohlen
zu haben.“
„Okay, mach
ich“.
„Dieser Mann
sagt aber immer wieder, dass er unschuldig ist.“
„Das gibt es
ja heute auch noch“, wusste Kathrin. „Dann werden viele Menschen befragt und
Zeugen gesucht und so und irgendwann stellt das Gericht die Schuld oder die
Unschuld der Person fest.“
„Ja, heute
ist das so, aber im Mittelalter war das ein kleines bisschen anders“,
formulierte es Oma vorsichtig. „Damals legte man – um bei unserem Beispiel zu
bleiben – diesem Mann etwas Glühendes in die Hand.“
„Ich glaube,
ich spinne. Das kann man doch nicht machen. Der Mann wird sich so doll
verbrannt haben.“
„Vermutlich war
es so. Man dachte damals, wenn der Mann wirklich unschuldig wäre, würde ihm
Gott helfen und der Beschuldigte käme ohne Verletzungen davon. Starke
Verbrennungen waren hingegen der Beweis, dass Gott nicht auf der Seite des
Angeklagten war. Und dies wiederum langte, um ihn als schuldig zu überführen.“
„Glaubst du
wirklich, dass irgendjemand kaum Verbrennungen hatte?“
„Darüber habe
ich mir ehrlich gesagt noch keine Gedanken gemacht“, gab Oma zu, „doch wir
können uns ja einmal näher mit dieser Frage beschäftigen, wenn du magst.“
Kathrin wartete
Omas weiteren Gedanken und Worte ab.
„Was wird ein
Mensch machen, der wirklich unschuldig ist?“, fragte Oma.
Kathrin
zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung!“
„Ich denke,
er wird sich an Gott wenden in seiner Not und ihn bitten ihm zu helfen. Er wird
sagen: ‚Gott du weißt, dass ich unschuldig bin. Ich bitte dich von ganzem
Herzen hilf mir in meiner Not’.“
Ja, das
konnte sich Kathrin vorstellen. Sie hatte Gott auch schon oft um etwas gebeten.
„Aber du hast
doch einmal gesagt, wir sollen Gott nicht ständig um etwas bitten. Wir sollen
vielmehr danken, als bitten."
„Ja, das habe
ich gesagt. Und das gilt in meinen Augen auch. Oft geht es bei unseren Bitten
um Dinge, die in unserer eigenen Hand liegen. Gott ist nämlich nicht zuständig
für alles, was in unserem Leben schief läuft. Das sind wir mit unserem
Fehlverhalten und das gilt es, zu erkennen und zu verändern. Wir sollten nicht
ständig jemanden suchen, dem wir die Probleme unseres Lebens in die Schuhe
schieben können. Und schon gar nicht Gott“, erzürnte sich Oma.
„Okay, das
habe ich verstanden“, antwortete Kathrin. „Doch wie war das nun mit dem Mann,
wenn er wirklich unschuldig war. Hatte er starke Verbrennungen oder nicht.“
„Das hing vielleicht
davon ab, ob er wirklich, so wie Jesus zum Beispiel, felsenfest überzeugt war,
dass Gott ihm in seiner Situation helfen konnte. Fehlte ihm hingegen das
Gottvertrauen, wird es wohl nicht geklappt haben.“
Kathrin zog
ein Fazit. „Man versuchte also auf diese schaurige Weise die Wahrheit ans Licht
zu bringen.“
„Ganz genau!“
„Gut, dass
dies heute nicht mehr so ist!“
„Ja, das
stimmt wohl. Aber auch heute werden immer noch Menschen verurteilt, die
unschuldig sind.“
„Vielleicht“,
überlegte Kathrin, „sollte ich nicht Lehrerin für Deutsch werden, sondern
Richterin oder Staatsanwältin oder so was, damit das nicht mehr passiert.“
Oma musste
lachen. An Selbstvertrauen mangelte es ihrer Enkelin wahrlich nicht und das war
auch gut so.
Wenn man nach
Kathrins Neigungen ging, würde Oma in ihr eher eine Hebamme,
Krankenschwester oder Ärztin sehen. Doch das behielt sie lieber für sich. Die
Zeit würde es zeigen, in welche Richtung das Leben Kathrin noch führte.
© Martina
Pfannenschmidt, 2015