Freitag, 10. November 2017

Danke für alle guten Gaben

„Was denkt ihr“, flüsterte Stups seinen Geschwistern zu, „verdammt dunkel hier. Ob das der richtige Ort für uns ist?“ Pips, Sweety und Krümel sahen sich scheu um. Stups hatte Recht. Es war wirklich dunkel und auch ein bisschen unheimlich. Krümel, der Kleinste unter den Geschwistern, antwortete ängstlich: „Ich glaub, wir sollten lieber wieder gehen!“, doch die anderen waren mutiger und beschlossen, sich zunächst einmal genauer umzusehen.
Die vier Mäuse wohnten bisher auf einem Bauernhof, doch ein großer schwarzer Kater, der ihnen ständig auflauerte, hatte sie dort vergrault. Es glich überhaupt einem Wunder, dass sie noch lebten und ihm nicht bereits zum Opfer gefallen waren.  
Deshalb hatten sie sich auf den Weg gemacht, um sich ein neues Zuhause zu suchen. Als sie dieses riesige Gebäude mit dem gigantischen Turm gesehen hatten, war ihnen klar: dort müssen wir hinein. Da sind wir bestimmt sicher.
Schnell fanden sie einen kleinen Spalt im Mauerwerk, durch das sie sich ins Innere dieses großen Gebäudes begeben konnten.
„Schau mal“, scherzte Pips, um die Situation aufzulockern und zog dabei eine lustige Grimasse, „dort die Nase von der komischen Figur, die ist genau so schief, wie das kleines spitze Schnäuzchen unserer kleinen Sweety“. Krümel kicherte, doch Stups, der Älteste, herrschte Pips scharf an. „Rede keinen Unfug. Schau dir lieber deine eigene Nase an.“ Schon war Ruhe.
Die Vier rannten einen ziemlich langen Gang entlang, der zu einem wunderschönen Raum führte. Hier war es nicht mehr so dunkel, denn durch die herrlich bunten Fenster fiel das Licht direkt auf einen großen Tisch. Dort standen Blumen und Kerzen und ein Kreuz aus Holz, an dem ein Mann hing, der aus einigen Wunden blutete.
„Ich glaube“, stotterte Sweety, „wir sollten uns lieber verkrümeln, sonst enden wir genau, wie der Mann dort an dem Kreuz.“
„Aber das ist doch Jesus“, fuhr Stups seine Schwester an. „Unsere Mutter hat uns doch oft von ihm erzählt. Und jetzt weiß ich auch, wo wir sind. Wir sind in einer Kirche“.
„Aber sagt man nicht von den Mäusen, die hier leben, sie seien arm?“, erkundigte sich Pips, ‚arm wie eine Kirchenmaus?’
„Hier müssen wir bestimmt verhungern“, gab Krümel zu bedenken, bekam darauf jedoch keine Antwort, denn die anderen kannten das schon. Krümel hatte ständig Angst und sah immer alles nur schwarz.
Dann machten sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem, da sich große Löcher in ihren Bäuchen auftaten. An einem Tischbein wurden sie fündig. Dort lag vom letzten Abendmahl ein kleines Stückchen trockenen Brots, das dem alten Hermann aus seiner zitternden Hand gefallen war. Ein großes Glück für die Mäuse, auch wenn es schon ziemlich trocken war, so schmeckte es ihnen doch sehr gut. In jedem Fall beschlossen sie, zunächst einmal in diesem Gemäuer zu bleiben.
Hin und wieder betrat ein Mensch die Kirche, setzte sich in eine der vielen Bankreihen und betete, oder zündete eine Kerze an. Das war ein Segen für die kleinen Spitzmäuse, denn dort konnten sie sich aufwärmen oder im Schein der Kerze Geschichten erzählen.
Stups war ein besonders guter Geschichtenerzähler und so bettelten seine Geschwister so lange, bis er sich erweichen ließ.
„Man erzählt sich“, so begann er, „dass Gott wütend war, weil die Menschen Krieg gegeneinander führten und böse waren. Deshalb beschloss er, den Menschen eine Sintflut zu schicken, also ganz viel Regen, der alles überfluten sollte. Doch Gott wollte, dass ein Mann, der Noah hieß, gemeinsam mit seiner Familie überlebte, denn Noah war ein guter Mensch und so erschien Gott Noah in seinen Träumen und sagte ihm, dass er ihn mit dem Bau eines sehr großen Schiffes, einer Arche, beauftragen würde. Und weil Noah sehr gläubig und gottesfürchtig war, begab er sich sogleich an die Arbeit. Es dauerte eine Weile, bis er damit fertig war. Dann ordnete Gott an, dass sich immer zwei Tiere von jeder Art auf den Weg zur Arche machen sollten, damit sie diese Sintflut überleben könnten. Alle Tiere folgten diesem Aufruf, nur die nicht, die im Meer lebten, die brauchten keinen Platz in der Arche. Zwei Flöhe kamen im Fell eines Hundes an Bord. Die anderen gingen oder flogen. Als das Schiff schon voll besetzt war, schaute Noah, bevor er die Luke schloss, noch einmal genau nach, ob auch wirklich alle Tiere ihren Platz eingenommen hatten. Und was denkt ihr, waren alle da?“, frage Stups seine Geschwister.
„Keine Ahnung“, meinte Sweety.
„Ich glaub schon“, war Pips sicher, „denn alle Arten wollten ja überleben.“
„Was denkst du“, sprach Stups Krümel an, „waren alle an Bord?“
„Bestimmt nicht. Bestimmt hat ein Tier verschlafen oder gar nicht davon gehört“, erwiderte er.
„Ganz genau so war es. Man hatte vergessen, uns Spitzmäuse zu benachrichtigen. Als Noah dies auffiel und er los laufen wollte, um unsere Vorfahren zu holen, hielten die anderen Tiere ihn auf, weil sie meinten, wir seien doch sowieso nicht nützlich. Doch da wurde Noah sehr böse und fragte sie, wer ihnen das Recht dazu gäbe, darüber zu urteilen, denn alles was Gott erschaffen habe, sei wertvoll, sinnvoll und auch nützlich. Da schämten sich die anderen, weil sie so schlecht von uns gesprochen und gedacht hatten. Schnell liefen einige los, um zwei unserer Vorfahren zu holen. Gerade noch rechtzeitig schafften sie es zurück. Dann schloss Noah die Luke und die Arche trieb davon. Genau wie Gott gesagt hatte, ließ er es 40 Tage lang sehr stark regnen. Als es aufgehört hatte zu regnen, schickte Noah eine Taube aus, um zu schauen, ob das Wasser bereits fort war. Als sie kurz darauf mit einem Ölzweig im Schnabel zurückkam, als Beweis dafür, dass es an Land wieder grün war, öffnete Noah das große Tor und die Tiere verließen die Arche. Zuerst durften die großen Tiere das Schiff verlassen, dann die kleineren und zuallerletzt verließen zwei Spitzmäuse die Arche. Am Himmel über ihnen stand dabei ein großer Regenbogen, das Zeichen Gottes, dass es einen neuen Anfang für alle Menschen und Tiere auf der Erde geben würde.“
Die drei Geschwister hatten ihrem großen Bruder aufmerksam zugehört und waren ganz angetan von seinen Ausführungen. Dann wurde die Kirchentür geöffnet und mehrere Männer trugen etwas in die Kirche, was sich als ein großer Schatz für die Spitzmäuse zeigte, denn es handelte sich um einen riesengroßen Erntekranz, den die Menschen als Dank für eine gute Ernte aus den unterschiedlichsten Getreidesorten gebunden hatten. Das war wie ein reichlich gedeckter Tisch für die Mäuse.
„Lasst uns auch Gott danken“, sagte Stups und seine Stimme klang bewegt, „dass er auch an uns denkt und uns so reichlich beschenkt.“
Als die Menschen die Kirche wieder verließen, hielten sie inne, denn sie hatten für einen kurzen Augenblick den Eindruck, als sei jemand im Altarraum, der leise Gott preiste und ein Dankgebet sprach.

© Martina Pfannenschmidt, 2014