Freitag, 10. November 2017

Alles im Gleich-Gewicht

Uschi jonglierte singend und gut gelaunt mit ihrem Staubsauger um die Sessel, als ihr Blick auf die Wanduhr fiel. ‚Morgens halb zehn in Deutschland’ ging ihr ein bekannter Werbeslogan durch den Kopf. ‚Zeit für einen Cappuccino’, entschied sie. Schließlich war sie schon seit einigen Stunden auf den Beinen. Das hatte sie sich jetzt redlich verdient. Schnell war mittels eines Pulvers das Getränk angerührt. Sie ließ sich in einen Sessel plumpsen und schlürfte eine kurze Zeit später die süße, aber noch sehr heiße Köstlichkeit.
Das Telefon, das direkt neben ihr auf einem kleinen Tischchen stand, kündigte einen Anrufer an. Nachdem Uschi sich gemeldet hatte, fragte eine nette Frauenstimme: „Ist dort Uschi? Uschi Rinderfuß?“ Oh, sie hatte ihn so sehr gehasst, ihren Mädchennamen. Ständig hatten die anderen Kinder sie damit aufgezogen. Deshalb fragte sie sehr pampig: „Und wer will das wissen?“
„Na, Renate“, antwortete die Stimme lachend, „Renate Umsonst. Zumindest hieß ich früher so.“
„Nein“, schrie Uschi in den Hörer hinein, „Renate – das gibt’s doch gar nicht. Wie lange haben wir nichts voneinander gehört?“
Wie sich heraus stellen sollte, waren es fast 30 Jahre. Nach ihrem Schulabschluss war Renate mit ihren Eltern nach Bayern verzogen. Uschi erinnerte sich an den tränenreichen Abschied von damals. Ihre Freundin wäre sehr gerne im geliebten Norden wohnen geblieben, doch das Leben – oder ihre Eltern - hatte anders für sie entschieden.
Spontan entschieden sie, sich am kommenden Tag in dem Hotel zu treffen, in dem Renate abgestiegen war. Es gab ja so viel zu berichten. Uschi freute sich auf das Wiedersehen, zumindest im ersten Moment. Doch dann sah sie an sich herunter. Wie sie nur wieder aussah. Zum Putzen trug sie immer ihre alte ausgeleierte Jogginghose. Das war bequem, doch eben nicht besonders hübsch. Uschi rannte ins Bad und schaute in den Spiegel. Auch hier kam das große Entsetzen. So konnte sie Renate auf keinen Fall gegenüber treten. Ihr grauer Ansatz war schon fast zwei Zentimeter herausgewachsen und die rote Farbe, mit der sie das Grau zu übertünchen versuchte, war total verblasst. Sie sah einfach furchtbar aus. Schon stand die nächste Frage im Raum: Was sollte sie bloß zu diesem Treffen anziehen? Eilenden Schrittes betrat sie das Schlafzimmer und riss die Tür des Schrankes auf. Mit einem Blick erkannte sie: Für diesen Anlass hatte sie nichts Passendes anzuziehen. Was war zu tun? Etwas Neues musste her, und zwar so schnell, wie möglich. Uschi ließ alles stehen und liegen und entschloss sich, zum Einkaufen in die nächste Stadt zu fahren.
Als sie Richtung Auto ging, bemerkte sie erst, wie kalt es geworden war. Aber das war ein Zustand, der Uschi kaum etwas anhaben konnte. Ihr war nämlich meistens viel zu warm und oft stand ihr der Schweiß auf der Oberlippe. Wechseljahre nannten die Ärzte diesen Zustand oder anders ausgedrückt: Klimakterium. Doch wie sie es auch immer nannten, besser wurde der Zustand dadurch nicht.
Uschi fuhr schnurstracks in das Parkhaus eines großen Kaufhauses, um dort schicke neue Kleidung zu kaufen.  Ein Überangebot erwartete sie. Da würde sie bestimmt schnell etwas finden. Ein Kleid kam auf gar keinen Fall in Frage, das hatte sie seit Jahrzehnten nicht getragen. Es sollte eine edle Hose sein, auf keinen Fall eine Jeans, die machte sie nur noch dicker. Leider hatte sie in den Jahren seit der Schulzeit ein wenig an Gewicht zugelegt. Also, wenn man die Gewichtszunahme auf die Jahre umrechnete, war das gar nicht mal so viel, gerade einmal ein Kilo pro Jahr.
‚Oh, was für ein stilvolles Outfit’, ging es ihr durch den Kopf, als sie die Damenabteilung des Kaufhauses erreicht hatte. Doch beim Blick auf die Kleidergröße hatte sich das Ganze schnell erledigt. Langsam schlich Uschi Richtung ‚große Größen’. Hier würde sie wohl eher etwas finden. Doch nichts von dem, was dort angeboten wurde, entsprach ihren Vorstellungen.
Uschi erinnerte sich an Renate und fragte sich, ob sie wohl noch so spindeldürr war, wie damals. Ob sie immer noch ihr schönes kohlrabenschwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden trug? Besser fühlte sie sich bei diesen Gedanken nicht. Hätte sie bloß diesem Treffen nicht zugestimmt. Aber nun war es so – da musste sie jetzt durch.
Zielsicher griff sie nach einer schwarzen Hose mit einem schwarzen Oberteil. Als sie in den Spiegel schaute, sah sie aus, als wolle sie zu einer Beerdigung. Etwas flotter durfte das Oberteil schon sein und die Hose? Sie saß ein bisschen eng – so um die Hüften herum. Uschi hängte beides zurück und erkannte kurz darauf: Dass, was sie suchte, würde sie in diesem Geschäft nicht finden. Frustriert machte sie sich auf den Weg Richtung Cafeteria. Sie musste ihren Frust mit einem Stückchen Sahnetorte schmälern.
Gerade als sie sich die erste Gabel voll mit der süßen Köstlichkeit in den Mund geschoben hatte, wurde sie angesprochen. „Entschuldigung, ist hier noch ein Platz frei?“ Uschi nickte und verschluckte sich im selben Moment ganz fürchterlich. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie in der rundlichen Frau mit den kurzen grauen Haaren und dem verschwitzten Gesicht ihre alte Schulfreundin Renate!


© Martina Pfannenschmidt, 2014