Donnerstag, 25. Dezember 2025

Die Gans Irma flieht vor Weihnachten

An diesem frostigen Dezemberabend funkelten die Sterne besonders hell und etwas Heiliges lag über dem kleinen Dorf. Dennoch watschelte Irma, die weiße Gans, aufgeregt in ihrem Gehege umher, das neben einem kleinen Bauernhof am Rande eines Waldes lag.

Ihre Stimmung war gedrückt. Sie spürte instinktiv die Unruhe der Menschen, die eifrig Vorbereitungen für das bevorstehende Fest trafen. Lichter wurden aufgehängt und Plätzchen wurden gebacken. All das konnte sie von ihrem Platz aus erkennen.

Die Frau des Hauses werkelte eifrig in der Küche und das machte Irma mächtig Angst. Sie wusste, dass es Tradition war, zu Weihnachten eine Gans zu schlachten und sie ahnte, dass sie in diesem Jahr als Braten auf dem Tisch der Menschen enden würde.

Ihr Herz klopfte bei diesem Gedanken wie wild vor Angst. Deshalb fasste sie einen wagemutigen Entschluss.

Als alle im Haus schliefen und der Mond groß und hell am Himmel stand, wackelte sie an einem der Zaunpfähle und bemerkte, dass er nur sehr locker im Boden verankert war. Deshalb schaffte sie es nach kurzer Zeit, sich zu befreien. So schnell sie ihre Füße trugen, watschelte sie im Schein des Mondes Richtung Wald, der bald dunkel und geheimnisvoll vor ihr lag.

Im Wald sah alles so anders aus. Die Bäume ragten wie dunkle Gespenster in den Himmel, und aus dem Dickicht drangen unheimliche Geräusche an ihr Ohr. Hier vernahm sie ein Rascheln, dort ein Knacken und in der Ferne hörte sie den unheimlichen Ruf eines Käuzchens.

Irma fröstelte, vor Angst und auch vor Kälte. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so einsam gefühlt, wie in dieser Nacht. Ihr Magen knurrte vor Hunger. Doch am schlimmsten war die Angst vor dem Unbekannten. Ob es doch keine so gute Idee gewesen war, zu fliehen?

Zwischen all den verwachsenen Wurzeln der gespenstischen Bäume stolperte Irma ziellos umher; immer auf der Suche nach einem sicheren Ort. Plötzlich huschte ein Eichhörnchen vorbei und blieb neugierig stehen.

„Warum bist du so spät im Wald unterwegs?“, wollte es wissen. Irma erzählte von ihrer Flucht und ihrer Angst vor Weihnachten. Das Eichhörnchen bot ihr an, in seinem Kobel in der Baumkrone zu schlafen, doch Irma flatterte ratlos mit den Flügeln. Für sie war der Kobel viel zu hoch und auch viel zu winzig.

Und so zog die Gans weiter, bis sie einem Dachs begegnete, der behäbig aus seinem Bau kroch. Auch ihm erzählte sie ihre Geschichte und auch er bot ihr an, bei ihm unter der Erde zu wohnen. Doch nachdem Irma einen Blick in den dunklen Eingang gewagt hatte, gruselte ihr vor der Enge und der Dunkelheit. So bedankte sie sich freundlich bei dem Dachs, lehnte es aber dennoch ab, bei ihm zu wohnen.

Auch ein Reh, das im Mondlicht graste, bot Irma einen Platz im hohen Gras unter den Bäumen an. Doch dort wäre die Gans völlig ungeschützt vor Wind und Wetter und auch ungeschützt vor den Blicken der Menschen. So bedankte sich Irma auch beim Reh und trottete weiter. Noch ein wenig verzweifelter, als zuvor.

Gerade als sie dachte, sie müsse die Nacht allein draußen, schutzlos und frierend verbringen, trat ein roter Fuchs in ihr Blickfeld. Die anderen Tiere des Waldes hatten Irma vor Füchsen gewarnt: „Pass bloß auf“, hatten sie gesagt, „Füchse töten Gänse!“

Deshalb begann sie vor Angst am ganzen Körper zu zittern, als sie ihn sah. Nun würde er ihr Leben beenden! - Doch es sollte anders kommen, als sie dachte, denn in der Weihnachtszeit geschehen Wunder, nicht wahr!

Und so lächelte der Fuchs Irma freundlich und durchaus ehrlich an, als er auf sie zukam. „Hab keine Angst vor mir, liebe Gans“, meinte er friedvoll, „ich bin anders als meine Artgenossen. Ich jage und fresse keine Tiere. Ich bin schon seit langem Vegetarier. Ich esse nur Beeren und Pilze. Deshalb lade ich dich herzlich zu mir ein. Es ist warm und sicher in meinem Bau und du wärst mir ein lieber Weihnachtsgast.“

Irma zögerte ein wenig. Konnte sie dem Fuchs wirklich trauen? Schließlich sagte man ihm eine gewisse Schläue nach. Außerdem hatten das Eichhörnchen, der Dachs und das Reh sie vor ihm gewarnt. Doch der Fuchs sah wirklich ehrlich aus und so entschied sie, einen Blick in seinen Bau zu riskieren. Vorsichtig spähte sie hinein. Es roch angenehm nach Moos und irgendwie verzog sich die Angst aus Irmas Herzen und das Vertrauen ins Leben wuchs.

Zwar klopfte ihr Herz laut bei jedem Schritt, als sie sich tiefer in den Bau hineinwagte, doch das Klopfen des Herzens wich sehr bald dem Gefühl, einen wahrhaft sicheren Platz gefunden zu haben.

Eine Weile später saßen sie gemeinsam am Tisch und speisten den Brei, den der Fuchs aus Pilzen und Beeren gekocht hatte. Derweil erzählte Irma aufgeregt von ihren Erlebnissen. Als sie später in einen unruhigen Schlaf fiel, fühlte sie sich dennoch sicher und glücklich.

Am nächsten Morgen hörten sie draußen die Schritte und die Stimme eines Menschen, der nach Irma rief. Die Gans traute sich kaum, zu atmen, doch sie wusste: Kein Mensch würde sie jemals in einem Fuchsbau suchen.  

Als die Gefahr vorüber war, freuten sich beide auf das bevorstehende Weihnachtsfest, dass sie auf ihre Weise voller Freundschaft, Wärme und ohne Angst feierten.

Die Gans verbrachte all die Wintertage im Bau des Fuchses und sie hatte längst für sich erkannt, dass nicht alles so ist, wie es scheint, und dass auch ein Fuchs ein wahrhaft gutes Herz haben kann.

 

© Martina Pfannenschmidt, 2025

 

 


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