An diesem frostigen Dezemberabend funkelten die Sterne besonders hell und etwas Heiliges lag über dem kleinen Dorf. Dennoch watschelte Irma, die weiße Gans, aufgeregt in ihrem Gehege umher, das neben einem kleinen Bauernhof am Rande eines Waldes lag.
Ihre Stimmung war
gedrückt. Sie spürte instinktiv die Unruhe der Menschen, die eifrig
Vorbereitungen für das bevorstehende Fest trafen. Lichter wurden aufgehängt und
Plätzchen wurden gebacken. All das konnte sie von ihrem Platz aus erkennen.
Die Frau des
Hauses werkelte eifrig in der Küche und das machte Irma mächtig Angst. Sie
wusste, dass es Tradition war, zu Weihnachten eine Gans zu schlachten und sie
ahnte, dass sie in diesem Jahr als Braten auf dem Tisch der Menschen enden
würde.
Ihr Herz klopfte
bei diesem Gedanken wie wild vor Angst. Deshalb fasste sie einen wagemutigen
Entschluss.
Als alle im Haus
schliefen und der Mond groß und hell am Himmel stand, wackelte sie an einem der
Zaunpfähle und bemerkte, dass er nur sehr locker im Boden verankert war. Deshalb
schaffte sie es nach kurzer Zeit, sich zu befreien. So schnell sie ihre Füße
trugen, watschelte sie im Schein des Mondes Richtung Wald, der bald dunkel und
geheimnisvoll vor ihr lag.
Im Wald sah alles
so anders aus. Die Bäume ragten wie dunkle Gespenster in den Himmel, und aus
dem Dickicht drangen unheimliche Geräusche an ihr Ohr. Hier vernahm sie ein
Rascheln, dort ein Knacken und in der Ferne hörte sie den unheimlichen Ruf
eines Käuzchens.
Irma fröstelte,
vor Angst und auch vor Kälte. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so
einsam gefühlt, wie in dieser Nacht. Ihr Magen knurrte vor Hunger. Doch am
schlimmsten war die Angst vor dem Unbekannten. Ob es doch keine so gute Idee gewesen
war, zu fliehen?
Zwischen all den
verwachsenen Wurzeln der gespenstischen Bäume stolperte Irma ziellos umher;
immer auf der Suche nach einem sicheren Ort. Plötzlich huschte ein Eichhörnchen
vorbei und blieb neugierig stehen.
„Warum bist du so
spät im Wald unterwegs?“, wollte es wissen. Irma erzählte von ihrer Flucht und
ihrer Angst vor Weihnachten. Das Eichhörnchen bot ihr an, in seinem Kobel in
der Baumkrone zu schlafen, doch Irma flatterte ratlos mit den Flügeln. Für sie
war der Kobel viel zu hoch und auch viel zu winzig.
Und so zog die
Gans weiter, bis sie einem Dachs begegnete, der behäbig aus seinem Bau kroch.
Auch ihm erzählte sie ihre Geschichte und auch er bot ihr an, bei ihm unter der
Erde zu wohnen. Doch nachdem Irma einen Blick in den dunklen Eingang gewagt
hatte, gruselte ihr vor der Enge und der Dunkelheit. So bedankte sie sich
freundlich bei dem Dachs, lehnte es aber dennoch ab, bei ihm zu wohnen.
Auch ein Reh, das
im Mondlicht graste, bot Irma einen Platz im hohen Gras unter den Bäumen an.
Doch dort wäre die Gans völlig ungeschützt vor Wind und Wetter und auch ungeschützt
vor den Blicken der Menschen. So bedankte sich Irma auch beim Reh und trottete
weiter. Noch ein wenig verzweifelter, als zuvor.
Gerade als sie
dachte, sie müsse die Nacht allein draußen, schutzlos und frierend verbringen,
trat ein roter Fuchs in ihr Blickfeld. Die anderen Tiere des Waldes hatten Irma
vor Füchsen gewarnt: „Pass bloß auf“, hatten sie gesagt, „Füchse töten Gänse!“
Deshalb begann sie
vor Angst am ganzen Körper zu zittern, als sie ihn sah. Nun würde er ihr Leben
beenden! - Doch es sollte anders kommen, als sie dachte, denn in der
Weihnachtszeit geschehen Wunder, nicht wahr!
Und so lächelte
der Fuchs Irma freundlich und durchaus ehrlich an, als er auf sie zukam. „Hab
keine Angst vor mir, liebe Gans“, meinte er friedvoll, „ich bin anders als
meine Artgenossen. Ich jage und fresse keine Tiere. Ich bin schon seit langem
Vegetarier. Ich esse nur Beeren und Pilze. Deshalb lade ich dich herzlich zu
mir ein. Es ist warm und sicher in meinem Bau und du wärst mir ein lieber
Weihnachtsgast.“
Irma zögerte ein
wenig. Konnte sie dem Fuchs wirklich trauen? Schließlich sagte man ihm eine
gewisse Schläue nach. Außerdem hatten das Eichhörnchen, der Dachs und das Reh sie
vor ihm gewarnt. Doch der Fuchs sah wirklich ehrlich aus und so entschied sie,
einen Blick in seinen Bau zu riskieren. Vorsichtig spähte sie hinein. Es roch angenehm
nach Moos und irgendwie verzog sich die Angst aus Irmas Herzen und das
Vertrauen ins Leben wuchs.
Zwar klopfte ihr
Herz laut bei jedem Schritt, als sie sich tiefer in den Bau hineinwagte, doch
das Klopfen des Herzens wich sehr bald dem Gefühl, einen wahrhaft sicheren
Platz gefunden zu haben.
Eine Weile später
saßen sie gemeinsam am Tisch und speisten den Brei, den der Fuchs aus Pilzen
und Beeren gekocht hatte. Derweil erzählte Irma aufgeregt von ihren Erlebnissen.
Als sie später in einen unruhigen Schlaf fiel, fühlte sie sich dennoch sicher
und glücklich.
Am nächsten Morgen
hörten sie draußen die Schritte und die Stimme eines Menschen, der nach Irma
rief. Die Gans traute sich kaum, zu atmen, doch sie wusste: Kein Mensch würde
sie jemals in einem Fuchsbau suchen.
Als die Gefahr
vorüber war, freuten sich beide auf das bevorstehende Weihnachtsfest, dass sie auf
ihre Weise voller Freundschaft, Wärme und ohne Angst feierten.
Die Gans
verbrachte all die Wintertage im Bau des Fuchses und sie hatte längst für sich
erkannt, dass nicht alles so ist, wie es scheint, und dass auch ein Fuchs ein wahrhaft
gutes Herz haben kann.
© Martina
Pfannenschmidt, 2025
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen