Christian war Mitte vierzig, aber für ihn fühlte es sich nicht wie eine Zahl an, sondern wie ein Zustand. Ein Zustand des Stillstands. Manchmal kam es ihm so vor, als habe jemand bei ihm die Pause-Taste gedrückt, während für alle anderen das Leben weiterlief.
Es war nicht nur
sein Job, den er tagtäglich monoton verrichtete, es war auch die Beziehung zu
seiner Frau, die er hinterfragte. Nach Außen waren sie das perfekte Paar und sicher waren sie das
auch, denn sie stritten selten oder nie. Aber genau das war es. Es war still
geworden zwischen ihnen.
Klar hatte er
Freunde, mit denen er sich traf und hin und wieder zu einem Fußballspiel fuhr,
dennoch schien er nicht nur der Zuschauer dieses Spiels zu sein,
sondern er hatte das Gefühl, auch der Zuschauer seines eigenen Lebens zu sein.
Nachts lag er oft
wach und stellte sich die Frage, ob das schon alles war oder ob es da noch mehr
gab, das auf ihn wartete. In diesen Momenten wurde ihm stets bewusst, dass er
selbst es war, der diese Veränderungen herbeiführen musste. Aber irgendwie fehlte ihm dazu der Mut.
Würde er den Mut
aufbringen, einen neuen Berufsweg zu gehen? Es wäre gut, mehr Zeit für seine
Ehe und die Kinder zu haben und vielleicht auch Zeit, um seinem Hobby, dem
Modellbau von Flugzeugen, wieder nachzugehen.
Doch jedes Mal,
wenn diese Gedanken auftauchten, hatten sie Zweifel und Ängste im Gepäck. Und
so blieb alles, wie es war.
Und so stieg Christian an einem grauen
Samstagnachmittag in sein Auto und fuhr zu seinem Großvater
Karl. Er hatte immer schon einen sehr engen Kontakt zu ihm gehabt und trotz oder
gerade wegen seiner neunzig Jahre, die sein Leben inzwischen zählte, holte er
sich immer wieder Rat bei ihm. Vielleicht konnte sein Opa ihm auch in dieser Situation
weiterhelfen.
Als er das kleine
Haus am Standrand erreichte, stieg ein warmes Gefühl in ihm auf. Drinnen roch
es nach frischem Apfelkuchen, den seine Oma gebacken hatte. Es
roch aber auch nach Pfeifentabak und alten Büchern.
Sein Opa saß am
Fenster und blickte in den verwunschenen Garten. Der Anblick
entspannte Christian sofort. Nach einer herzlichen Begrüßung setzten sie sich
in den Wintergarten, der von den letzten Sonnenstrahlen des Tages geflutet
wurde.
„Na, mein Junge“,
begann Opa Karl das Gespräch, „du schaust, als wäre eine dicke Laus über deine
Leben gelaufen“, und lächelte dabei verschmitzt.
Christian nickte. „Es
ist nicht nur die Laus, die mir zu schaffen macht, Opa, es ist eher ein dicker
Knoten, der sich in meinem Kopf befindet und mir das Gefühl gibt, dass ich feststecke.
Irgendwie nimmt zwar alles seinen gewohnten Lauf, dennoch bewegt sich nichts. Verstehst
du, wie ich es meine? Und kennst du das Gefühl oder diesen Zustand vielleicht
auch aus deinem Leben? Gab es einen Zeitpunkt, wo du auch nicht wusstest, wie
es weitergehen könnte?“
„Natürlich kenne
ich das und deshalb verstehe ich dich und deine Sorgen auch zu gut. Man hat das
Gefühl, das Leben sei in eine Schieflage geraten. So wie bei einem Baum, der am
Hang wächst. Er scheint fest im Boden verankert zu sein, doch sobald ein Sturm
aufzieht, fragt man sich, ob er standhält. Wenn wir das auf uns Menschen
übertragen, könnten wir uns in einer gleichen Situation fragen, ob wir
vielleicht neue Wurzeln schlagen möchten.“
„Aber wie findet
man dazu den Mut, wenn alles dafür spricht, dass das Alte doch bekannt und
sicher ist. Es ist doch viel einfacher, alles beim Alten zu belassen.“
„Natürlich
brauchst du dazu ein Quäntchen Mut. Das ist schon klar, doch Mut muss ja nicht etwas
sein, das alles niederreißt, was da ist. Es reicht, wenn der Mut ein kleines
Flüstern ist. Wenn du morgens aufstehst und eine Kleinigkeit veränderst, auch wenn du
Angst hast. Weißt du, ich
wollte auch oft nicht raus aus meiner Komfortzone. Aber jedes Mal, wenn ich sie
nur ein kleines bisschen ausgeweitet habe, indem ich einen neuen Schritt gewagt
habe, wurde mein Leben schöner und bunter.“
„Und wenn man
Angst hat, zu scheitern?“
„Auch das gehört
zum Leben, Christian. Schau dir den Baum da draußen an. Bald wird er all seine
Blätter verloren haben und völlig kahl dastehen. Aber wir wissen beide, dass
der nächste Frühling kommen wird und mit ihm wird er neu zum Leben erwachen. Nutze
die dunkle Jahreszeit, um nachzudenken, was und wohin du willst und dann schau,
was im Frühjahr neu austreiben darf.“
„Der Baum da
draußen, der weiß um seinen Platz“, erwiderte Christian und senkte dabei seinen Blick, „ich habe oft das
Gefühl, meinen Platz im Leben verloren zu haben.“
„Aber schau, der
Baum kann seinen Platz nicht wechseln und eine neue Perspektive einnehmen. Aber
du kannst das. Lass dir Zeit, mein Junge! Veränderungen beginnen zuerst im Kopf und sie brauchen Mut. Und der muss zuerst im Herzen wachsen.“
Die beiden
schwiegen eine Weile und Christian dachte über die Metapher mit dem Baum und seinen
Wurzeln nach. Manchmal musste man bei einem Baum die Äste stutzen, damit er
wieder Richtung Himmel wachsen konnte. Und er brauchte den Halt, den ihm seine
Wurzeln gaben. Aber diese Wurzeln konnten auch in neue Richtungen ausschlagen. Das wurde ihm jetzt klar.
Das Gespräch
hallte in ihm noch lange nach, auch wenn kein Satz alles verändert hatte, so sorgten
die Worte seines Großvaters doch dafür, dass Christian eine neue Sichtweise einnahm.
Vielleicht mussten
die Veränderungen, die er anstrebte oder herbeisehnte, gar nicht der große
Umbruch sein. Vielleicht reichten schon ein paar kleine Schritte: ein offenes Gespräch mit seiner Frau, ein
Anruf bei einem alten Freund, ein Nachmittag nur er und sein Modellflugzeug.
Als Christian an
diesem Tag nach Hause fuhr, war die Straße zwar die gleiche wie zuvor, aber das
Gefühl in seinem Inneren war ein anderes. Vielleicht würde es Zeit brauchen,
bis er den ersten Schritt wagte. Aber die Worte seines Opas hatten ihm gut
getan und ja, das Leben war ständig in Bewegung, kannte keinen Stillstand, und
nach dem Winter würde ein neuer Frühling kommen, der vielleicht neue Äste oder
Wurzeln, die neue Richtungen einnahmen, wachsen ließen.
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