Samstag, 22. November 2025

Mut zum Wandel

Christian war Mitte vierzig, aber für ihn fühlte es sich nicht wie eine Zahl an, sondern wie ein Zustand. Ein Zustand des Stillstands. Manchmal kam es ihm so vor, als habe jemand bei ihm die Pause-Taste gedrückt, während für alle anderen das Leben weiterlief.

Es war nicht nur sein Job, den er tagtäglich monoton verrichtete, es war auch die Beziehung zu seiner Frau, die er hinterfragte. Nach Außen waren sie das perfekte Paar und sicher waren sie das auch, denn sie stritten selten oder nie. Aber genau das war es. Es war still geworden zwischen ihnen.

Klar hatte er Freunde, mit denen er sich traf und hin und wieder zu einem Fußballspiel fuhr, dennoch schien er nicht nur der Zuschauer dieses Spiels zu sein, sondern er hatte das Gefühl, auch der Zuschauer seines eigenen Lebens zu sein.

Nachts lag er oft wach und stellte sich die Frage, ob das schon alles war oder ob es da noch mehr gab, das auf ihn wartete. In diesen Momenten wurde ihm stets bewusst, dass er selbst es war, der diese Veränderungen herbeiführen musste. Aber irgendwie fehlte ihm dazu der Mut.

Würde er den Mut aufbringen, einen neuen Berufsweg zu gehen? Es wäre gut, mehr Zeit für seine Ehe und die Kinder zu haben und vielleicht auch Zeit, um seinem Hobby, dem Modellbau von Flugzeugen, wieder nachzugehen.

Doch jedes Mal, wenn diese Gedanken auftauchten, hatten sie Zweifel und Ängste im Gepäck. Und so blieb alles, wie es war.

Und so stieg Christian an einem grauen Samstagnachmittag in sein Auto und fuhr zu seinem Großvater Karl. Er hatte immer schon einen sehr engen Kontakt zu ihm gehabt und trotz oder gerade wegen seiner neunzig Jahre, die sein Leben inzwischen zählte, holte er sich immer wieder Rat bei ihm. Vielleicht konnte sein Opa ihm auch in dieser Situation weiterhelfen.

Als er das kleine Haus am Standrand erreichte, stieg ein warmes Gefühl in ihm auf. Drinnen roch es nach frischem Apfelkuchen, den seine Oma gebacken hatte. Es roch aber auch nach Pfeifentabak und alten Büchern.

Sein Opa saß am Fenster und blickte in den verwunschenen Garten. Der Anblick entspannte Christian sofort. Nach einer herzlichen Begrüßung setzten sie sich in den Wintergarten, der von den letzten Sonnenstrahlen des Tages geflutet wurde.

„Na, mein Junge“, begann Opa Karl das Gespräch, „du schaust, als wäre eine dicke Laus über deine Leben gelaufen“,  und lächelte dabei verschmitzt.

Christian nickte. „Es ist nicht nur die Laus, die mir zu schaffen macht, Opa, es ist eher ein dicker Knoten, der sich in meinem Kopf befindet und mir das Gefühl gibt, dass ich feststecke. Irgendwie nimmt zwar alles seinen gewohnten Lauf, dennoch bewegt sich nichts. Verstehst du, wie ich es meine? Und kennst du das Gefühl oder diesen Zustand vielleicht auch aus deinem Leben? Gab es einen Zeitpunkt, wo du auch nicht wusstest, wie es weitergehen könnte?“

„Natürlich kenne ich das und deshalb verstehe ich dich und deine Sorgen auch zu gut. Man hat das Gefühl, das Leben sei in eine Schieflage geraten. So wie bei einem Baum, der am Hang wächst. Er scheint fest im Boden verankert zu sein, doch sobald ein Sturm aufzieht, fragt man sich, ob er standhält. Wenn wir das auf uns Menschen übertragen, könnten wir uns in einer gleichen Situation fragen, ob wir vielleicht neue Wurzeln schlagen möchten.“

„Aber wie findet man dazu den Mut, wenn alles dafür spricht, dass das Alte doch bekannt und sicher ist. Es ist doch viel einfacher, alles beim Alten zu belassen.“

„Natürlich brauchst du dazu ein Quäntchen Mut. Das ist schon klar, doch Mut muss ja nicht etwas sein, das alles niederreißt, was da ist. Es reicht, wenn der Mut ein kleines Flüstern ist. Wenn du morgens aufstehst und eine Kleinigkeit veränderst, auch wenn du Angst hast. Weißt du, ich wollte auch oft nicht raus aus meiner Komfortzone. Aber jedes Mal, wenn ich sie nur ein kleines bisschen ausgeweitet habe, indem ich einen neuen Schritt gewagt habe, wurde mein Leben schöner und bunter.“

„Und wenn man Angst hat, zu scheitern?“

„Auch das gehört zum Leben, Christian. Schau dir den Baum da draußen an. Bald wird er all seine Blätter verloren haben und völlig kahl dastehen. Aber wir wissen beide, dass der nächste Frühling kommen wird und mit ihm wird er neu zum Leben erwachen. Nutze die dunkle Jahreszeit, um nachzudenken, was und wohin du willst und dann schau, was im Frühjahr neu austreiben darf.“

„Der Baum da draußen, der weiß um seinen Platz“, erwiderte Christian und senkte dabei seinen Blick, „ich habe oft das Gefühl, meinen Platz im Leben verloren zu haben.“

„Aber schau, der Baum kann seinen Platz nicht wechseln und eine neue Perspektive einnehmen. Aber du kannst das. Lass dir Zeit, mein Junge! Veränderungen beginnen zuerst im Kopf und sie brauchen Mut. Und der muss zuerst im Herzen wachsen.“

Die beiden schwiegen eine Weile und Christian dachte über die Metapher mit dem Baum und seinen Wurzeln nach. Manchmal musste man bei einem Baum die Äste stutzen, damit er wieder Richtung Himmel wachsen konnte. Und er brauchte den Halt, den ihm seine Wurzeln gaben. Aber diese Wurzeln konnten auch in neue Richtungen ausschlagen. Das wurde ihm jetzt klar.

Das Gespräch hallte in ihm noch lange nach, auch wenn kein Satz alles verändert hatte, so sorgten die Worte seines Großvaters doch dafür, dass Christian eine neue Sichtweise einnahm.

Vielleicht mussten die Veränderungen, die er anstrebte oder herbeisehnte, gar nicht der große Umbruch sein. Vielleicht reichten schon ein paar kleine Schritte:  ein offenes Gespräch mit seiner Frau, ein Anruf bei einem alten Freund, ein Nachmittag nur er und sein Modellflugzeug.

Als Christian an diesem Tag nach Hause fuhr, war die Straße zwar die gleiche wie zuvor, aber das Gefühl in seinem Inneren war ein anderes. Vielleicht würde es Zeit brauchen, bis er den ersten Schritt wagte. Aber die Worte seines Opas hatten ihm gut getan und ja, das Leben war ständig in Bewegung, kannte keinen Stillstand, und nach dem Winter würde ein neuer Frühling kommen, der vielleicht neue Äste oder Wurzeln, die neue Richtungen einnahmen, wachsen ließen.

 

© Martina Pfannenschmidt

 


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