Freitag, 14. November 2025

Der letzte Apfel am Baum

Hoch oben im Baum, zwischen buntem Laub und knorrigen Ästen, hing ein einzelner rotwangiger Apfel. Die anderen Äpfel an diesem Baum waren längst von den Menschen gepflückt und in Körbe verstaut worden. Aus ihnen war bereits Apfelmus oder ein duftender Apfelkuchen geworden. Nur er war geblieben. Man hatte ihn einfach übersehen, weshalb er sich jetzt, so ganz allein, einsam und vergessen fühlte.

Doch eines Morgens, als die Nebelschwaden noch über der Erde waberten, setzte sich unerwartet eine kleine Meise neben den Apfel. Da es kühl war, plusterte der Vogel sein Gefieder auf. Dabei sah er den Apfel neugierig an und zwitscherte ihm ein fröhliches: „Guten Morgen!“ entgegen.

„Was ist los mit dir“, wollte die Meise wissen, „weshalb hängst du noch hier herum?“

Der Apfel seufzte leise. „Weißt du, liebe Meise, alle meine Freunde wurden von den Menschen gepflückt. Bestimmt wurden sie inzwischen gegessen, zu Saft gepresst oder zu einem leckeren Kuchen gebacken. Ihr Leben hatte also einen Sinn. Und ich? Ich hänge hier fest und niemand braucht mich.“

Während die Meise ihr Federkleid putzte, überlegte sie, wie sie dem Apfel bei diesem Dilemma helfen konnte. „Weißt du“, begann sie nach einiger Zeit, „der Sinn des Lebens ist oft wie ein Sonnenstrahl, der sich hinter dem Nebel versteckt. Manchmal ist er wie verschleiert. Manche suchen ihn ihr ganzes Leben lang und denken, er muss doch groß und sichtbar sein – so wie vielleicht ein Bratapfel zur Weihnachtszeit. Dabei steckt Sinn oft im Stillen oder gar im Dasein selbst. Verstehst du? Vielleicht ist es deine Aufgabe, einfach nur zu sein und zu warten, bis sich zeigt, wofür du gebraucht wirst.“

Der Apfel runzelte nachdenklich seine rote Schale. „Aber wie erkenne ich ihn denn? Was muss ich tun, damit ich einen Sinn habe? Oder kann ich so bleiben, wie ich bin?“, fragte er den kleinen Vogel unsicher.

Die Meise blickte derweil in die Weite: „Ich glaube“, meinte sie dann, „manchmal ist der Sinn nicht das, was wir tun, sondern wie wir sind. Geduldig zu warten, freundlich zu sein, anderen Hoffnung zu geben, selbst wenn niemand hinschaut. Und vergiss nicht, dass auch du und ich Teil von etwas ganz Großem sind – und vielleicht merkst du erst, wenn du loslässt, was du alles bewirken kannst.“

„Glaubst du, dass es schlimm ist, dass ich den Sinn meines Lebens noch nicht kenne?“ fragte der Apfel nachdenklich.

Die Meise lächelte: „Ich denke, dass es überhaupt nicht schlimm ist. Manchmal zeigt sich der Sinn schon früh im Leben. Manchmal aber auch erst später und ganz oft ganz anders, als man erwartet.“

Der Apfel dachte lange über die weisen Worte der Meise nach. „Denkst du, ich muss loslassen“, wollte sie von dem Vogel wissen, und fügte an: „aber ich habe Angst vor dem Fallen. Vielleicht zerberste ich in 1000 Stücke.“ Allein die Vorstellung ließ den Apfel erschaudern.

Sanft pickte die Meise am Stiel des Apfels. „Weißt du, lieber Apfel, es erfordert großen Mut loszulassen, da man nicht weiß, was dann kommt. Doch manchmal ist das Loslassen die Lösung und der Anfang von etwas ganz Neuem. Was, wenn du den Sinn deines Lebens nur dann erkennen kannst, wenn du vertraust und loslässt?“

Beide schwiegen für eine ganze Weile. Dann fragte der Apfel: „Wirst du bei mir bleiben, bis ich mich traue, mich fallen zu lassen?“

„Ich verspreche es dir“, antwortete die Meise und fügte verschmitzt hinzu, „es sei denn, es dauert noch den ganzen Winter.“

In dem Moment, als der Apfel über die Worte der Meise schmunzelte und ihm bewusst wurde, dass er eine Entscheidung treffen musste, ließ er mutig los. Jetzt oder nie! Entschlossen, wie viele andere Äpfel es bereits vor ihm getan hatten, fiel er durch die kühle Luft, und zersprang, als er am Boden angekommen war, auf einem großen Stein, der sich unter dem Baum befand, in viele kleine Teile.

Schon bald kamen Ameisen, Würmer, ein Igel und auch die Meise, um sich an dem zu laben, was vom Apfel für sie übriggeblieben war.

Und so wurde aus dem Apfel, der sich nutzlos gefühlt hatte, Nahrung und Freude für viele hungrige kleine Tiere. Der Sinn des Lebens zeigt sich oft auf eine Weise, die man sich nie hätte träumen lassen.

Vielleicht liegt der Sinn des Lebens aber auch einfach nur darin, zu vertrauen und loszulassen, wenn es Zeit dafür ist. Und bis dahin findet man den Sinn in kleinen Momenten der Verbundenheit und darin, sich mutig dem Wandel hinzugeben.


(c) Martina Pfannenschmidt

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