Hoch oben im Baum, zwischen buntem Laub und knorrigen Ästen, hing ein einzelner rotwangiger Apfel. Die anderen Äpfel an diesem Baum waren längst von den Menschen gepflückt und in Körbe verstaut worden. Aus ihnen war bereits Apfelmus oder ein duftender Apfelkuchen geworden. Nur er war geblieben. Man hatte ihn einfach übersehen, weshalb er sich jetzt, so ganz allein, einsam und vergessen fühlte.
Doch eines
Morgens, als die Nebelschwaden noch über der Erde waberten, setzte sich
unerwartet eine kleine Meise neben den Apfel. Da es kühl war, plusterte der
Vogel sein Gefieder auf. Dabei sah er den Apfel neugierig an und zwitscherte
ihm ein fröhliches: „Guten Morgen!“ entgegen.
„Was ist los mit
dir“, wollte die Meise wissen, „weshalb hängst du noch hier herum?“
Der Apfel seufzte
leise. „Weißt du, liebe Meise, alle meine Freunde wurden von den Menschen gepflückt.
Bestimmt wurden sie inzwischen gegessen, zu Saft gepresst oder zu einem
leckeren Kuchen gebacken. Ihr Leben hatte also einen Sinn. Und ich? Ich hänge
hier fest und niemand braucht mich.“
Während die Meise
ihr Federkleid putzte, überlegte sie, wie sie dem Apfel bei diesem Dilemma
helfen konnte. „Weißt du“, begann sie nach einiger Zeit, „der Sinn des Lebens ist
oft wie ein Sonnenstrahl, der sich hinter dem Nebel versteckt. Manchmal ist er
wie verschleiert. Manche suchen ihn ihr ganzes Leben lang und denken, er muss doch
groß und sichtbar sein – so wie vielleicht ein Bratapfel zur Weihnachtszeit.
Dabei steckt Sinn oft im Stillen oder gar im Dasein selbst. Verstehst du? Vielleicht
ist es deine Aufgabe, einfach nur zu sein und zu warten, bis sich zeigt, wofür
du gebraucht wirst.“
Der Apfel runzelte
nachdenklich seine rote Schale. „Aber wie erkenne ich ihn denn? Was muss ich
tun, damit ich einen Sinn habe? Oder kann ich so bleiben, wie ich bin?“, fragte
er den kleinen Vogel unsicher.
Die Meise blickte derweil
in die Weite: „Ich glaube“, meinte sie dann, „manchmal ist der Sinn nicht das, was
wir tun, sondern wie wir sind. Geduldig zu warten, freundlich zu sein, anderen
Hoffnung zu geben, selbst wenn niemand hinschaut. Und vergiss nicht, dass auch du
und ich Teil von etwas ganz Großem sind – und vielleicht merkst du erst, wenn
du loslässt, was du alles bewirken kannst.“
„Glaubst du, dass
es schlimm ist, dass ich den Sinn meines Lebens noch nicht kenne?“
fragte der Apfel nachdenklich.
Die Meise
lächelte: „Ich denke, dass es überhaupt nicht schlimm ist. Manchmal zeigt sich
der Sinn schon früh im Leben. Manchmal aber auch erst später und ganz oft ganz
anders, als man erwartet.“
Der Apfel dachte
lange über die weisen Worte der Meise nach. „Denkst du, ich muss loslassen“,
wollte sie von dem Vogel wissen, und fügte an: „aber ich habe Angst vor dem
Fallen. Vielleicht zerberste ich in 1000 Stücke.“ Allein die Vorstellung ließ
den Apfel erschaudern.
Sanft pickte die
Meise am Stiel des Apfels. „Weißt du, lieber Apfel, es erfordert großen Mut
loszulassen, da man nicht weiß, was dann kommt. Doch manchmal ist das Loslassen
die Lösung und der Anfang von etwas ganz Neuem. Was, wenn du den Sinn deines
Lebens nur dann erkennen kannst, wenn du vertraust und loslässt?“
Beide schwiegen
für eine ganze Weile. Dann fragte der Apfel: „Wirst du bei mir bleiben, bis ich
mich traue, mich fallen zu lassen?“
„Ich verspreche es
dir“, antwortete die Meise und fügte verschmitzt hinzu, „es sei denn, es dauert
noch den ganzen Winter.“
In dem Moment, als der Apfel über die Worte der Meise schmunzelte und ihm bewusst wurde, dass er eine Entscheidung treffen musste, ließ er mutig los. Jetzt oder nie! Entschlossen, wie viele andere
Äpfel es bereits vor ihm getan hatten, fiel er durch die kühle Luft, und zersprang, als er am Boden
angekommen war, auf einem großen Stein, der sich unter dem Baum befand, in viele kleine Teile.
Schon bald kamen
Ameisen, Würmer, ein Igel und auch die Meise, um sich an dem zu laben, was vom
Apfel für sie übriggeblieben war.
Und so wurde aus
dem Apfel, der sich nutzlos gefühlt hatte, Nahrung und Freude für viele hungrige
kleine Tiere. Der Sinn des Lebens zeigt sich oft auf eine Weise, die man sich
nie hätte träumen lassen.
Vielleicht liegt
der Sinn des Lebens aber auch einfach nur darin, zu vertrauen und loszulassen, wenn
es Zeit dafür ist. Und bis dahin findet man den Sinn in kleinen Momenten der
Verbundenheit und darin, sich mutig dem Wandel hinzugeben.
(c) Martina Pfannenschmidt
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