Freitag, 10. November 2017

Von einer Sekunde auf die andere

Brigitta freute sich über die Sonne, die ihre Haut an diesem herrlichen Junitag streichelte. Ganz spontan konnte sie frei nehmen und verbrachte den Nachmittag damit, die Terrasse auf Vordermann zu bringen. Leider hatte Cornelius nicht das Glück, den Tag so genießen zu können. Er musste arbeiten. Brigitta nahm sich vor, ihn am Abend abzuholen. Vielleicht würden sie noch etwas Nettes unternehmen oder einfach in der Eisdiele sitzen, den Leuten beim Flanieren zusehen und einen großen Eisbecher mit frischen Erdbeeren genießen.
Sie konnte über ihr Leben wahrlich nicht klagen. Sie war behütet aufgewachsen, eine gute Schülerin gewesen und hatte nach dem Schulabschluss sogleich eine Ausbildung bei einer großen Bank begonnen. Ihr Leben verlief nach Plan und wie im Bilderbuch. Als sie eines Tages Cornelius auf einer Fortbildung getroffen hatte, war ihr Glück perfekt. Vor einigen Monaten hatten sie geheiratet und wenn sich demnächst Kinder einstellten, hätte sie alles, was sie sich jemals gewünscht hatte.
Brigitta stand auf dem Parkplatz gegenüber der Bank, in der Cornelius beschäftigt war und wartete dort auf ihn. Beim Blick auf die Uhr wusste sie, dass er in ein paar Sekunden aus dem Gebäude käme. Drei, zwei, eins, dachte sie und tatsächlich wurde die Tür geöffnet. Heraus trat eine sehr schlanke und äußerst attraktive junge Frau. Offenbar eine neue Kollegin, von der ihr Mann noch gar nicht erzählt hatte. Jetzt trat auch Cornelius ins Freie. Die Frau blieb stehen, drehte sich um und unterhielt sich angeregt mit ihm. Sie lachten laut und verabschiedeten sich mit einem Küsschen auf die Wange.
Brigitta war wie erstarrt, machte keine Anstalten, auf sich aufmerksam zu machen. Was war das denn gerade? Hatte Cornelius etwa eine Geliebte und sie war völlig ahnungslos? Er schnappte sich sein Rad und trat in die Pedalen. Brigitta würde einen anderen Weg nach Hause nehmen und dort auf ihn warten.
„Hallo, mein Schatz, hattest du einen schönen Tag?“, fragte er beim Betreten der Wohnung und hauchte seiner Frau einen Kuss auf ihren Mund.
„Ja!“
„Und, hast du uns etwas Leckeres gekocht?“
„Ich habe nichts gekocht, weil ich dachte, wir könnten vielleicht …“.
„Ja, was denn? Was könnten wir?“
„Ach nichts weiter. Wie war denn dein Tag?“
„Ausgezeichnet! Ich hatte wirklich einen sehr angenehmen Tag. Weißt du wonach mir jetzt wäre?“ Cornelius wartete Brigittas  Antwort gar nicht ab, sondern schlug vor, im Restaurant am See frischen Fisch zu essen.
Einige Stunden später lagen sie im Bett und Brigitta dachte über das nach, was ihr Mann während des Essens erzählt hatte. Kein Wort war über die neue Kollegin gefallen. Er verheimlichte ihr etwas. Das spürte sie. Eine unbändige Eifersucht stieg in ihr auf.
Nach einer schlaflosen Nacht stand sie morgens im Bad. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. Die würde sie überschminken, dass war überhaupt kein Problem, doch die Wunde in ihrem Herzen, die würde nicht so einfach verschwinden.
Am selben Nachmittag verließ sie ihren Arbeitsplatz eine halbe Stunde früher als gewohnt, um auf dem Parkplatz nach ihrem Mann Ausschau zu halten. Wieder verließ er gemeinsam mit der anderen Frau das Gebäude. Diesmal verabschiedeten sie sich nicht voneinander, sondern sie gingen sehr gezielt ein paar Straßen weiter. Unauffällig folgte sie den Beiden. Bald darauf betraten sie einen Juwelierladen. Brigitta hatte genug gesehen. Das reichte ihr als Beweis, dass ihr Mann sie betrog. Bestimmt kaufte er der anderen einen Ring oder ein teures Collier, um sich auf diese Weise für die schönen Stunden zu bedanken. Eine nagende Eifersucht nahm sie ganz gefangen.
Am Abend waren sie bei Freunden eingeladen. Brigitta fuhr, so wie sie es immer tat, damit Cornelius das eine oder andere Glas Wein trinken konnte. Diesmal sorgte sie dafür, dass es sogar einige Gläser mehr waren als üblich. Cornelius war ziemlich beschwippst. Als sie sich auf dem Heimweg auf einer dunklen Landstraße befanden, fragte sie ihn rundheraus: „Hast du eine Geliebte?“
„Aber Schatz, wie kommst du denn darauf?“, antwortete er und lachte laut. Das war das Letzte, was Brigitta jetzt ertragen konnte. Sie wollte nicht von ihrem Mann ausgelacht werden. Ohne weiter zu überlegen, trat sie das Gaspedal durch, verriss das Lenkrad und fuhr direkt auf einen Baum zu. Cornelius schrie! Sollte er nur schreien. Das hatte er sich selbst zuzuschreiben.
Tage später. Brigitta öffnete mühsam ihre Augen. Ihr Körper schmerzte. Am meisten ihr Kopf. Sie erkannte ihre Eltern. Was machten sie hier?
„Kind!“, hörte sie ihre Mutter wie aus der Ferne. „Da bist du ja wieder.“ Offenbar weinte sie. Langsam, ganz langsam kam die Erinnerung zurück.
„Cornelius?“, fragte Brigitta und das Sprechen strengte sie unglaublich an. Ihre Mutter wich ihrer Frage aus. „Wir wachen jetzt schon seit drei Tagen an deinem Bett, mein Kind. Ich bin so froh, dass du wieder aufgewacht bist.“
„Cornelius?“, fragte sie erneut.
Ihre Eltern wechselten einen Blick, dann antwortete ihr Vater: „Er hat den Unfall nicht überlebt!“
O Gott, was hatte sie nur getan?
Ein paar Wochen später konnte Brigitta das Krankenhaus wieder verlassen. Cornelius war inzwischen eingeäschert und beigesetzt worden. Sie hatte 1.000 Fragen beantwortet und jedermann glaubte ihr, dass sie einem Reh ausgewichen war. Ein Reh! Nur sie wusste, dass es nicht stimmte. Mit dieser Schuld würde sie leben müssen. Doch lieber war sie eine Witwe, als ihren Mann mit einer anderen zu teilen oder ihn zu verlieren. Da war es besser, ihn auf dem Friedhof zu wissen.
Am Abend klingelte es an der Haustür. Brigitta öffnete. Davor stand die Geliebte ihres Mannes.
„Entschuldigen Sie, Frau Reinhard. Ich habe lange überlegt, ob ich zu Ihnen gehe, doch es wäre sicher im Sinne Ihres Mannes gewesen, wenn Sie dieses Päckchen erreicht.“
„Ein Päckchen?“
„Ja, Ihr Mann hat es für Sie besorgt. Ich wusste davon. Es sollte seine Überraschung zum 1. Hochzeitstag sein. Wir fanden es jetzt in seiner Schreibtischschublade.“
Wie in Trance nahm Brigitta das Geschenkkästchen an sich. Die junge Frau wandte sich um und ging.
Brigitta öffnete das Schächtelchen. Darin lagen zwei Ohrstecker und ein Kärtchen, auf das Cornelius fein säuberlich geschrieben hatte:
„Wir Zwei gehören zusammen, so wie dieses Paar Ohrringe - für immer und ewig. In Liebe! Cornelius“


© Martina Pfannenschmidt, 2015