Verena
betrat das Zimmer ihres ältesten Sohnes.
„He,
Tino, du alte Schlafmütze“, weckte sie ihren Großen. „Du weißt doch, dass du
heute mit dem Fahrrad zur Schule fahren musst. Mein Auto ist in der Werkstatt.
Ich kann dich nicht hinbringen. Du musst jetzt aufstehen.“
Tino
knurrte so etwas wie ‚Ja’, zog sich dabei jedoch die Bettdecke über den Kopf.
„Ne,
mein Lieber, so haben wir nicht gewettet“, schmunzelte ihre Mutter und zog
ihrem Ältesten die Bettdecke weg.
„Los,
hopp jetzt, raus aus dem Bett. Ich muss auch noch Steve wecken. Er wird heute
von dem Vater seines Freundes mitgenommen.“
Mühsam
schälte sich Tino aus dem Bett, schlurfte mürrisch ins Bad und gab dabei eine
wirklich bedauernswerte Figur ab.
Verena
betrachtete das Schauspiel mit einem kleinen Lächeln und ging hinüber in das
Zimmer ihres jüngeren Sohnes. Hier fand sich ein ganz anderes Bild. Der Kleine
lag schon wach auf seinem Bett.
„Guten
Morgen, Ma, kann ich jetzt aufstehen?“, fragte er. Wie verschieden ihre Kinder
waren.
„Klar,
darfst du aufstehen“, antwortete Verena und widerstand ihrem Gefühl, ihren
Jüngsten in den Arm nehmen zu wollen. „Mama, das ist voll peinlich!“, hatte er
letztens gesagt. Sie musste sich wohl damit abfinden, dass die Kuschelstunden
mit ihren Kindern gezählt waren.
Bald
darauf saßen sie zu dritt am Frühstückstisch. Verena schmierte noch schnell
jedem ein Brot und packte es in die jeweilige Schultasche.
Draußen
hupte ein Auto. Beim Blick auf die Uhr erschrak Verena. „Steve, du wirst schon
abgeholt. Komm schnell, damit sie nicht auf dich warten müssen.“
Verena
winkte ihm nach und ging wieder zu ihrem Großen in die Küche. „Tino, beeil dich
bitte. Schau mal auf die Uhr. Du musst gleich ordentlich in die Pedalen treten,
sonst kommst du zu spät!“
Noch
kauend erhob er sich, schnappte zuerst seine Jacke, anschließend seine Tasche
und machte sich auf den Weg. Er brachte tatsächlich ein ‚Tschüß’ über seine
Lippen und bog bald darauf um die Ecke.
Verena
ging zurück ins Haus. Nachdem sie die Küche aufgeräumt hatte, ging sie ins
obere Stockwerk, um die Betten zu machen. Als sie in das Zimmer ihres Großen
kam, öffnete sie zuerst einmal das Fenster weit. Es war zwar noch kühl an
diesem Vormittag, doch der Himmel zeigte sich in seinem schönsten Blau. Das
Martinshorn, das sie währenddessen aus der Ferne hörte, wollte so gar nicht
dazu passen.
Während
Verena im Wohnzimmer saugte, sang sie laut das Lied, das sie gerade im Radio
gehört hatte. Dabei überhörte sie die Haustürklingel. Sie vernahm sie erst, als
sie den Staubsauger ausgestellt hatte.
„Guten
Morgen, Frau Mühlenhaus, dürfen wir herein kommen“, fragte einer der beiden
Polizisten, die vor ihrer Haustür standen.
Verena
verspürte sofort einen dicken Kloß im Hals. Es musste etwas passiert sein! Sie
trat einen Schritt zur Seite, schaffte es aber nicht, ein Wort heraus zu
bringen. Als sie mit den Männern im Wohnzimmer saß, nahm einer der beiden das
Wort. „Frau Mühlenhaus, wir müssen ihnen eine schlechte Nachricht überbringen.“
– Obwohl Verena saß, hatte sie das Gefühl, zu schwanken. Etwas Schlimmes kam da
auf sie zu. Sie spürte es.
„Frau
Mühlenhaus“, wiederholte er noch einmal ihren Namen, „ihr Sohn Tino hatte einen
schweren Verkehrsunfall. Er ist bei rot über die Ampel gefahren. Ein LKW konnte
nicht mehr ausweichen und hat ihn erfasst. Leider kam jede Hilfe zu spät. Er
verstarb noch an der Unfallstelle.“
Verena
hörte, was die Männer sagten, doch es kam wie durch eine Nebelwand bei ihr an.
Im selben Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Sie verlor das Bewusstsein.
Ein
Jahr später!
Verena stand in der Küche. Sie belegte einen
Obstboden mit Himbeeren. Die hatte Tino immer so gerne gegessen. ‚Was mache ich
hier eigentlich?’, fragte sie sich. Am liebsten hätte sie den ganzen
Kladderadatsch an die Wand gepfeffert. Aber das ging nicht. Die Torte war für
Steve, der heute seinen 14. Geburtstag feierte. In zwei Jahren würde er 16. - Tino
war nur 16 Jahre alt geworden. Warum war ihr Auto an dem Tag in der Werkstatt?
Wenn sie ihn gefahren hätte, dann … Warum nur hatte sie ihn gedrängt? Er hätte
bestimmt noch Zeit genug gehabt, auch wenn er langsam gefahren wäre. Sie trug
die Schuld daran, dass er so jung sterben musste. Warum hatte Gott all das
zugelassen? Warum? Niemand konnte ihr all die Fragen beantworten. Niemand!
Wenn Verena ihr heutiges Leben betrachtete, war
sie eigentlich auch tot, mit dem einzigen Unterschied, dass sie noch auf dieser
Erde war. Warum? Warum durfte sie nicht bei ihrem Sohn sein? Diese ständigen
Gedanken waren unerträglich.
Als sie am Nachmittag mit Steve alleine vor der
Himbeertorte saß, war sie eigentlich gar nicht anwesend. Wortlos pickte sie
eine Himbeere von der Torte und steckte sie in ihren Mund.
Steve sah seine Mutter an und frage sie tief
traurig: „Mama, weißt du eigentlich, dass du zwei Söhne hast? Wir sind nicht beide
gestorben. Ich lebe noch. Aber du siehst mich gar nicht mehr. Wenn du mal
sprichst, dann nur über Tino. Doch er ist nicht mehr da, Mama. Er fehlt uns
allen. Mir und Papa genau so wie dir, doch wir Drei leben noch! Wir sind nicht
tot. Bitte tu nicht so, als würden wir alle nicht mehr existieren!“
Verena sah ihren Sohn entsetzt an. Es war so, als
habe er ihr direkt ins Gesicht geschlagen. Aber genau dieser Worte hatte es
bedurft. Verena warf sich schluchzend in die Arme ihres Sohnes und bat ihn um
Verzeihung. Fast hätte sie auch noch ihn verloren!
© Martina Pfannenschmidt, 2015