Freitag, 10. November 2017

Blauer Himmel

Verena betrat das Zimmer ihres ältesten Sohnes.
„He, Tino, du alte Schlafmütze“, weckte sie ihren Großen. „Du weißt doch, dass du heute mit dem Fahrrad zur Schule fahren musst. Mein Auto ist in der Werkstatt. Ich kann dich nicht hinbringen. Du musst jetzt aufstehen.“
Tino knurrte so etwas wie ‚Ja’, zog sich dabei jedoch die Bettdecke über den Kopf.
„Ne, mein Lieber, so haben wir nicht gewettet“, schmunzelte ihre Mutter und zog ihrem Ältesten die Bettdecke weg.
„Los, hopp jetzt, raus aus dem Bett. Ich muss auch noch Steve wecken. Er wird heute von dem Vater seines Freundes mitgenommen.“
Mühsam schälte sich Tino aus dem Bett, schlurfte mürrisch ins Bad und gab dabei eine wirklich bedauernswerte Figur ab.
Verena betrachtete das Schauspiel mit einem kleinen Lächeln und ging hinüber in das Zimmer ihres jüngeren Sohnes. Hier fand sich ein ganz anderes Bild. Der Kleine lag schon wach auf seinem Bett.
„Guten Morgen, Ma, kann ich jetzt aufstehen?“, fragte er. Wie verschieden ihre Kinder waren.
„Klar, darfst du aufstehen“, antwortete Verena und widerstand ihrem Gefühl, ihren Jüngsten in den Arm nehmen zu wollen. „Mama, das ist voll peinlich!“, hatte er letztens gesagt. Sie musste sich wohl damit abfinden, dass die Kuschelstunden mit ihren Kindern gezählt waren.
Bald darauf saßen sie zu dritt am Frühstückstisch. Verena schmierte noch schnell jedem ein Brot und packte es in die jeweilige Schultasche.
Draußen hupte ein Auto. Beim Blick auf die Uhr erschrak Verena. „Steve, du wirst schon abgeholt. Komm schnell, damit sie nicht auf dich warten müssen.“
Verena winkte ihm nach und ging wieder zu ihrem Großen in die Küche. „Tino, beeil dich bitte. Schau mal auf die Uhr. Du musst gleich ordentlich in die Pedalen treten, sonst kommst du zu spät!“
Noch kauend erhob er sich, schnappte zuerst seine Jacke, anschließend seine Tasche und machte sich auf den Weg. Er brachte tatsächlich ein ‚Tschüß’ über seine Lippen und bog bald darauf um die Ecke.
Verena ging zurück ins Haus. Nachdem sie die Küche aufgeräumt hatte, ging sie ins obere Stockwerk, um die Betten zu machen. Als sie in das Zimmer ihres Großen kam, öffnete sie zuerst einmal das Fenster weit. Es war zwar noch kühl an diesem Vormittag, doch der Himmel zeigte sich in seinem schönsten Blau. Das Martinshorn, das sie währenddessen aus der Ferne hörte, wollte so gar nicht dazu passen.
Während Verena im Wohnzimmer saugte, sang sie laut das Lied, das sie gerade im Radio gehört hatte. Dabei überhörte sie die Haustürklingel. Sie vernahm sie erst, als sie den Staubsauger ausgestellt hatte.
„Guten Morgen, Frau Mühlenhaus, dürfen wir herein kommen“, fragte einer der beiden Polizisten, die vor ihrer Haustür standen.
Verena verspürte sofort einen dicken Kloß im Hals. Es musste etwas passiert sein! Sie trat einen Schritt zur Seite, schaffte es aber nicht, ein Wort heraus zu bringen. Als sie mit den Männern im Wohnzimmer saß, nahm einer der beiden das Wort. „Frau Mühlenhaus, wir müssen ihnen eine schlechte Nachricht überbringen.“ – Obwohl Verena saß, hatte sie das Gefühl, zu schwanken. Etwas Schlimmes kam da auf sie zu. Sie spürte es.
„Frau Mühlenhaus“, wiederholte er noch einmal ihren Namen, „ihr Sohn Tino hatte einen schweren Verkehrsunfall. Er ist bei rot über die Ampel gefahren. Ein LKW konnte nicht mehr ausweichen und hat ihn erfasst. Leider kam jede Hilfe zu spät. Er verstarb noch an der Unfallstelle.“
Verena hörte, was die Männer sagten, doch es kam wie durch eine Nebelwand bei ihr an. Im selben Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Sie verlor das Bewusstsein.

Ein Jahr später!

Verena stand in der Küche. Sie belegte einen Obstboden mit Himbeeren. Die hatte Tino immer so gerne gegessen. ‚Was mache ich hier eigentlich?’, fragte sie sich. Am liebsten hätte sie den ganzen Kladderadatsch an die Wand gepfeffert. Aber das ging nicht. Die Torte war für Steve, der heute seinen 14. Geburtstag feierte. In zwei Jahren würde er 16. - Tino war nur 16 Jahre alt geworden. Warum war ihr Auto an dem Tag in der Werkstatt? Wenn sie ihn gefahren hätte, dann … Warum nur hatte sie ihn gedrängt? Er hätte bestimmt noch Zeit genug gehabt, auch wenn er langsam gefahren wäre. Sie trug die Schuld daran, dass er so jung sterben musste. Warum hatte Gott all das zugelassen? Warum? Niemand konnte ihr all die Fragen beantworten. Niemand!
Wenn Verena ihr heutiges Leben betrachtete, war sie eigentlich auch tot, mit dem einzigen Unterschied, dass sie noch auf dieser Erde war. Warum? Warum durfte sie nicht bei ihrem Sohn sein? Diese ständigen Gedanken waren unerträglich.
Als sie am Nachmittag mit Steve alleine vor der Himbeertorte saß, war sie eigentlich gar nicht anwesend. Wortlos pickte sie eine Himbeere von der Torte und steckte sie in ihren Mund.
Steve sah seine Mutter an und frage sie tief traurig: „Mama, weißt du eigentlich, dass du zwei Söhne hast? Wir sind nicht beide gestorben. Ich lebe noch. Aber du siehst mich gar nicht mehr. Wenn du mal sprichst, dann nur über Tino. Doch er ist nicht mehr da, Mama. Er fehlt uns allen. Mir und Papa genau so wie dir, doch wir Drei leben noch! Wir sind nicht tot. Bitte tu nicht so, als würden wir alle nicht mehr existieren!“
Verena sah ihren Sohn entsetzt an. Es war so, als habe er ihr direkt ins Gesicht geschlagen. Aber genau dieser Worte hatte es bedurft. Verena warf sich schluchzend in die Arme ihres Sohnes und bat ihn um Verzeihung. Fast hätte sie auch noch ihn verloren!


© Martina Pfannenschmidt, 2015