Freitag, 10. November 2017

Unverhofft (2)

Das Thermometer kletterte an diesem Nachmittag auf über 30°. Als Suse aus dem klimatisierten Bürohaus nach draußen trat, hätte sie fast der Schlag getroffen. Sie hatte noch keine Lust, jetzt nach Hause zu fahren und in ihrer Wohnung zu sitzen. Dort war es im Sommer sowieso viel zu warm.
Sie ging Richtung Brunnen und wollte es den Kindern gleich tun, die dort eine Abkühlung suchten. Schnell schnippte sie die Sandalen von ihren Füßen, setze sich auf den Rand des Brunnens, drehte sich kurzerhand um und kühlte ihre heißen Füße in dem kühlen Nass. Herrlich war das.
Seit einiger Zeit hatte sie sich von der Ergriffenheit, so viel Geld geerbt zu haben, erholt und sie spielte gerade mit dem Gedanken, sich eine andere Wohnung zu suchen. Sie bräuchte nicht viel größer zu sein, als ihre jetzige, doch einen Balkon sollte sie in jedem Fall haben. Abends würde sie dort draußen sitzen und in die Sterne schauen. Wäre das schön, wenn sie diese Momente mit einem Mann teilen könnte, ging es ihr durch den Kopf. Sie schloss die Augen und vernahm das Kreischen der Kinder nur noch aus der Ferne. Abrupt öffnete sie diese kurz darauf wieder, sprang auf und sah an sich herunter. Ein kleiner Junge mit lockigem Haar stand ihr gegenüber und freute sich diebisch, denn er hatte sie nass gespritzt.
„Na warte, du kleiner Schlingel“, rief Suse, „gleich schnapp ich dich und tauche dich unter.“
„Mama“, schrie der Junge und lief davon. „Die Frau da, die will mich untertauchen.“
Gott sei Dank nahm die Mutter das nicht so ernst und lachte über diese Aussage. Das war gut so. Auf eine zänkische und zickige Mutter hatte Suse jetzt echt keine Lust.
Wieder schloss sie die Augen und ließ ihre Kleidung in der Sonne trocknen. Ob sie eines Tages auch einmal eine Mutter sein würde und wie sie sich wohl verhalten würde in dieser Situation.
„Hallo! …“ Suse träumte weiter vor sich hin. „Hallo, Frau Schmidt?“, wiederholte jemand und stupste sie dabei an, so dass Suse aus ihren Tagträumen erwachte. „Natürlich sind sie es. Ich war einen Augenblick unsicher. Wir kennen uns doch. Erinnern Sie sich an mich?“
Suse erkannte ihr Gegenüber sofort und erinnerte sich auch sogleich an die Situation an ihrer Haustür und an ihre Mickymaus-Hausschuhe.
„Ach, Herr Bessen, dass ist ja eine Überraschung. Was machen Sie denn hier?“
Blöde Frage. Genau so gut hätte er sie das fragen können und sie hätte es blöd gefunden. Warum fehlten ihr gerade jetzt die richtigen Worte? Eigenartig, plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl, dass sich damals schon eingestellt hatte, als er bei ihr war, um ihr von der Erbschaft zu erzählen.
„Darf ich mich einen Augenblick zu ihnen setzen“, fragte er formvollendet. „Oder noch besser, darf ich Sie auf ein Eis einladen, dann kann ich mich endlich für den leckeren Auflauf revanchieren?“
Suse ließ sich nicht zweimal bitten. Sie liebte Eiscreme und der Italiener um die Ecke war für seine erstklassige Qualität bekannt.
Eine kurze Zeit später ergatterten sie den letzten Tisch und bestellten zwei riesige Eisbecher.
„Ich möchte ja nicht neugierig erscheinen, aber mich würde schon interessieren, ob sie sich von dem Erbe schon etwas Schönes geleistet haben?“, fragte Benjamin Bessen unumwunden.
Suse schüttelte mit dem Kopf.
„Nein, ich bin eher der Typ, der Anschaffungen genau plant und ich überlege lange vor einer größeren Investition. Und mit diesem Geld, das mir so unerwartet zufiel, möchte ich besonders behutsam umgehen. Gerade eben dachte ich allerdings darüber nach, mir eine andere Wohnung zu suchen. Ich hätte so gerne eine helle Wohnung mit einem Balkon.“
„Ach und ich dachte, sie hätten vielleicht schon eine Mittelmeerkreuzfahrt geplant oder einen Urlaub in der Karibik oder so etwas.“
Wieder schüttelte Suse den Kopf.
„Ach“, meinte sie, „so ganz alleine macht doch eine Kreuzfahrt auch keine Freude und wen könnte ich schon mitnehmen?“
„Na mich zum Beispiel“, schlug Benjamin spontan vor, der sich aber sogleich entschuldigte. „Oh, dass hört sich ja jetzt so an, als ob sie ihr Erbe mit mir teilen sollten. Da war ich jetzt echt der Elefant im Porzellanladen. Entschuldigen sie bitte. So war das gar nicht gemeint. Wissen Sie, ich bin auch alleine, seitdem sich meine Freundin von mir getrennt hat und ich habe bereits eine Reise für zwei Personen auf der AIDA gebucht und bisher noch nicht storniert. Doch so alleine zu verreisen ist, wie sie richtig sagen, nicht schön und da kam mir eben ganz spontan der Gedanke, dass wir doch vielleicht zusammen …“
Suse hörte ihm mit offenem Mund zu und seine letzten Worte nahm sie wie durch eine Nebelwand war. Wir? Gab es denn zwischen ihnen ein wir?
Im selben Augenblick wurde ihr bewusst, woher dieses komische Gefühl in ihrer Magengegend kam. Es waren die Schmetterlinge, die sich bei seinem Anblick in ihrem Bauch bemerkbar gemacht hatten. Natürlich. Sie war verliebt und zwar seit dem ersten Augenblick. Sie wollte dieses Gefühl nur nie zulassen, da sie ihn für unerreichbar hielt. Doch jetzt war es wieder da, dieses Kribbeln im Bauch und zwar so heftig, wie nie zuvor. Und jetzt schlug er ihr sogar eine gemeinsame Reise vor. Ob er dies wirklich ernst meinte? Erging es ihm vielleicht wie ihr – sie konnte sich mit dem Gedanken anfreunden. Doch auf der anderen Seite: Weshalb hatte er sich so lange nicht bei ihr gemeldet und heute waren sie sich doch auch nur durch Zufall begegnet. Oder nicht? Suses Gedanken schlugen Purzelbäume.
Nachdem sie kein Wort heraus brachte, sprach Benjamin weiter.
„Wissen Sie, Sie haben mit ihrer Art nicht nur ihren Nachbarn, Herrn Bessen, verzaubert, sondern auch mich. Sie gingen mir die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf. Doch bisher war da noch meine Freundin und deshalb habe ich keinen weiteren Kontakt zu Ihnen gesucht, doch als ich Sie jetzt dort an dem Brunnen sah, da war mir klar, dass ich Sie gerne an meiner Seite hätte. Ich glaube, ich habe mich in Dich verliebt, Suse! Ich weiß, dass kommt jetzt alles ein bisschen überraschend und vielleicht ist diese Zuneigung ja auch einseitig, aber vielleicht ist da ja auch bei dir so ein klitzekleiner Funke …“
Er redete und redete – und Suse schwieg. Ihr Schweigen wusste er nicht zu deuten. Deshalb schwieg er dann auch. Nach einer Weile der Stille zwischen ihnen nahm Suse seine Hand, die auf dem Tisch neben ihrer lag, sah ihm in die Augen und antwortete: „Ich gehe mit dir bis ans Ende der Welt und wenn du willst, noch ein Stückchen weiter.“


© Martina Pfannenschmidt, 2015