Sabine
fröstelte und knöpfte deshalb ihre Strickjacke noch weiter zu. Mit vor der
Brust verschränkten Armen schaute sie aus dem Fenster. Es wurde mit jedem Tag
herbstlicher.
Der
große Kartoffelacker vor ihrer Haustür war inzwischen abgeerntet. Der alte
Hinnack zog mit seiner großkarierten Jacke los, um die Kartoffeln, die auf dem
Acker liegen geblieben waren, in seinen Korb zu füllen. Seine Rente war schmal
und auf diese Weise konnte er seinen Geldbeutel ein bisschen schonen. Wer wollte
es ihm verübeln.
Sabine
wandte sich um und ging Richtung Schreibtisch zurück.
„Ach,
wie ungeschickt!“, rief sie aus. Sabine hatte aus Versehen ihren Papierkorb
umgestoßen, so dass nun sein gesamter Inhalt auf dem Fußboden verteilt lag.
Obenauf die Werbebriefe, die sie am Morgen zusammen mit einiger aussortierter
Post aus ihrem Schreibtisch entsorgt hatte.
Sabine
richtete den Korb wieder auf und sammelte die verstreuten Briefe und Papierschnipsel
ein. Ihr Blick fiel dabei auf einen vergilbten Umschlag, auf dem
handgeschrieben ihr Name stand. Sie nahm den Briefumschlag an sich und zog
einen etwas vergilbten Zettel heraus. Ein Strahlen zog über ihr Gesicht. Das konnte
nicht wahr sein. Es war ein Liebesbrief, den sie vor vielen, vielen Jahren von
ihrer ersten großen Liebe bekommen hatte. Jochen! Sie erinnerte sich genau an
ihn. Jochen Schreiner. Sie wusste gar nicht, dass dieser Brief noch existierte.
Er musste ganz unten in der Schublade gelegen haben, die sie am Morgen
aufgeräumt hatte. Ach wie schön war das, ihn in Händen zu halten. Sie las:
Liebe Sabine, immer wenn
ich dich sehe, bekomme ich kein Wort heraus. Jetzt schreibe ich, um dir zu
sagen, wie toll ich dich finde. Morgens, wenn ich wach werde, bist du mein
erster Gedanke. Ich kann es gar nicht erwarten, dich an der Bushaltestelle zu
sehen. Manchmal lächelst du mich an. Dann könnte ich die ganze Welt umarmen. Im
Unterricht kann ich mich nicht konzentrieren, weil ich immer an dich denken
muss. Auf dem Schulhof versuche ich, in deiner Nähe zu sein, doch meistens
übersiehst du mich. Abends wünschte ich, du wärst bei mir und nachts träume ich
von dir. Sabine, ich bin in dich verliebt. Willst du mit mir gehen? Jochen
Er
hatte ihr den Brief damals heimlich in ihre Schultasche gesteckt. Als sie ihre
Hausaufgaben erledigen wollte, hatte sie ihn gefunden. Sie wusste noch heute,
dass sie puterrot geworden war. Am nächsten Tag hatte sie sich auf dem
Pausenhof zu ihm gestellt und einfach nur ‚Ja’ gesagt. Da hatte er wie
selbstverständlich ihre Hand genommen. Sie wusste nicht mehr, wie lange es bis
zum ersten Kuss gedauert hatte, doch sie konnte sich noch sehr gut an ihn
erinnern, an ihren allerersten Kuss.
Ihre
Liebe hielt nicht lange, weil sie sich in einen anderen Jungen verliebt hatte.
Ob Jochen damals sehr darunter gelitten hatte? Vielleicht! Inzwischen sind die
Wunden sicher verheilt, dachte sie lächelnd. Was wohl aus ihm geworden war? Sie
wusste, dass er damals aus ihrem Dorf in die Stadt gezogen war. Aber mehr
wusste sie nicht von ihm. Schon eigenartig, dass manches Mal komplett aus den
Augen verliert.
Am
nächsten Morgen saß Sabine mit einer Tasse Kaffee und der Tageszeitung am
Frühstückstisch. Wie immer begann sie mit den Todesanzeigen. Diese Marotte
hatte sie wohl von ihrer Mutter übernommen. Während sie die Anzeigen überflog,
stockte ihr der Atem: Mit einem Herzen
voller Trauer, aber dankbar für die Zeit, die wir mit ihm verleben durften,
nehmen wir Abschied von meinem lieben Mann und herzensguten Vater – und dann
prangte dort in dicken Lettern der Name: Jochen Schreiner.
Eine
Gänsehaut überzog Sabines Rücken. Welche Mächte waren da am Werk, dass ihr
genau an seinem Todestag sein Brief in die Hände gefallen war und das auf diese
mysteriöse Art und Weise? Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als
stecke etwas dahinter. Es war fast so, als hätte Jochen selbst seine Hände
dabei im Spiel.
Es
gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die lassen sich mit reinem
Menschenverstand einfach nicht erklären.
©
Martina Pfannenschmidt, 2015