Freitag, 10. November 2017

‚Jägerlatein’

„Hast du alles eingepackt, was du mitnehmen möchtest zu Oma und Opa?“, fragte Mama.
„Ja, Mami, alles in meinem Rucksack“, antwortete Tobi.
„Na, dann lass uns fahren.“
Kurze Zeit später trafen Mama und Tobi bei den Großeltern ein.
Opa Gerd und Oma Emmi warteten schon. Die zwei waren seit einigen Jahren Rentner und nahmen sich viel Zeit für ihren Enkel. Sie spielten mit ihm oder lasen Geschichten vor. Am schönsten fand es Tobi allerdings, wenn Opa eine eigene Geschichte erzählte.
Deshalb setzte sich Tobi, nachdem Mama wieder gefahren war, auch sogleich auf Opas Schoß.
„Opa, erzählst du mir eine Geschichte“, bat er.
„Aber nicht wieder so ein Jägerlatein, wie beim letzten Mal“, rief Oma aus der Küche.
„Was ist dass, Oma“, fragte Tobi, „so ein Jägerlatein?“
„Das heißt nichts anderes, als dass dir der Opa nicht wieder einen Bären aufbinden soll“, hörte man aus der Küche.
„Aber Oma, was ist das nun wieder. Opa hat mir doch noch nie einen Bären aufgebunden.“
Oma und Opa lachten.
„Oma meint“, schaltete sich nun Opa ein, „ich solle dir nur Geschichten erzählen, die auch der Wahrheit entsprechen.“
„Aber das machst du doch immer, nicht wahr, Opa?“
„Natürlich, mein Junge“, erwiderte Opa. „Hab ich dir schon einmal die Geschichte erzählt, als ich mit meinem Freund Franz in den Wald gegangen bin, um Rehe zu beobachten?“
„Nein, davon hast du noch nie erzählt.“
„Na, dann pass mal gut auf, Tobi. Da kannst du viel über die Rehe erfahren. Also das war so. Der Franz und ich, wir sind spät am Abend, als es schon dunkel wurde, Richtung Wald gefahren. Wir wollten zum Hochsitz. Den kennst du doch, Tobi?“
„Ja, den kenne ich. Als wir letztens einen Spaziergang im Wald gemacht haben, da hat mir Papa einen gezeigt.“
„Und zu so einem Hochsitz da wollten wir. Auf dem Weg dorthin schaute Franz immer wieder, ob er im Schnee Spuren von Rehen sehen konnte. Es war nämlich Winter, als wir unterwegs waren und es lag Schnee. Dann setzten wir uns oben in den Hochsitz und warteten. Ganz schön kalt wurde es dort. Doch wir hatten heißen Tee dabei, um uns zu wärmen.
Wir mussten äußerst leise sein, denn Rehe leben in freier Wildbahn und sind sehr scheu. Deshalb kommt es auch nur ganz selten zu einer Begegnung zwischen Rehen und Menschen. Sobald die Rehe einen Menschen wittern, laufen sie davon.“
„Meinst du, die Rehe würden auch weglaufen, wenn ich mit einem Apfel in der Hand zu ihnen ginge?“, fragte Tobi.
„Ganz sicher, mein Junge!“, antwortete Opa.
„Erzähl weiter!“ forderte Tobi seinen Opa auf.
„Ja, ja. Nun warte es nur ab. Man muss sehr geduldig sein auf so einem Hochsitz. Mit unserem Fernglas, mit dem man auch bei Nacht die Tiere beobachten kann, suchten wir den Wald ab. Der Förster hatte an dem Platz vor dem Hochsitz Heu für die Rehe deponiert, damit sie etwas zum Fressen fanden. Kurze Zeit später sahen wir ein Reh mit seinem Kind. Weißt du, Tobi, das Reh nennt man auch ‚Ricke’ und das Kind ‚Kitz’.“
„Aber das weiß ich doch, Opa. Das hat uns Frau Müller im Kindergarten schon erzählt. Und ich weiß auch, wie der Papa heißt. Der heißt nämlich Hirsch und hat ein ganz großes Geweih.“
„Du bist ein schlauer kleiner Kerl, Tobi. Genau so ist es. Und weißt du, was wir dann noch beobachten konnten und das war etwas ganz Besonderes?“
„Nein, dass kann ich doch nicht wissen, Opa!“
„Dann kam nämlich der Papa, der Hirsch, fraß zunächst auch ein wenig von dem Heu und dann ging er zu einem dicken Baumstumpf und schabte mit seinem Geweih so lange an ihm herum, bis das Gehörn abfiel.“
„Was? Das ist ja ganz schrecklich. So ein Hirsch ganz ohne Geweih ist doch gar kein Hirsch mehr. Opa ist das jetzt vielleicht Jägerlatein?“
Opa lachte wieder.
„Nein, mein Junge, das ist kein Jägerlatein. Die Hirsche verlieren in jedem Winter ihr Geweih und dann wächst es wieder neu. Das ist nicht gelogen, sondern die reine Wahrheit.“
Zum Zeichen, dass er die Wahrheit sagte, streckte Opa Gerd drei Finger in die Luft, was soviel bedeutete wie: ‚Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen’.
„Weißt du denn auch, welche Farbe ihr Haarkleid hat?“, fragte Opa weiter.
„Rehe sehen rot aus – oder so ein bisschen braun.“
„Rotbraun“ rief Oma aus der Küche.
„Ja, ihr habt Recht“, meinte Opa. „Doch im Winter, da sieht es anders aus. Dann ist es nicht rotbraun, dann ist es graubraun. Das ist das Winterfell, das die Tiere stärker vor der Kälte schützt. Die Haare fallen dann im Frühjahr wieder aus und dann sehen die Rehe wieder rotbraun aus.“
„Kann ich auch einmal mit auf den Hochstuhl, Opa?“
Wieder musste Opa lachen.
„Einen Hochstuhl hattest du, als du noch ganz klein warst, lieber Tobi. Du meinst, du möchtest mit auf den Hochsitz. Ich werde den Franz mal fragen, ob wir dich beim nächsten Mal mitnehmen können. Aber dann musst du ganz still sein, darfst keinen Mucks sagen.“
„Das mach ich Opa, ganz bestimmt. Ich werde mucksmäuschenstill sein.“
„Soll ich noch weiter erzählen?“
Tobi nickte.
„Rehe sind Vegetarier. Weißt du, was das bedeutet?“, fragte Opa.
„Ja, das weiß ich. Das heißt, dass sie nur Gras, Heu oder Obst fressen, aber keine Tiere.“
„Ganz richtig, Tobi. Und im Winter, da darf man ihnen Äpfel oder Möhren bringen, die man in kleine Stückchen schneidet, denn Rehe haben oben keine Zähne und können somit die Äpfel nicht anbeißen.“
„Genau wie bei dir, Opa. Wenn du deine Zähne herausnimmst, dann kannst du auch in keinen Apfel beißen.“
Opa musste schmunzeln.
„Was man den Rehen nicht bringen darf“, erklärte er dann, „sind zum Beispiel rohe Kartoffelschalen und auch keinen Kohl und kein Brot. Das vertragen sie nicht. Und wenn Heu nass geworden ist, dann sollte man es von der Futterstelle entfernen, da es leicht schimmelt“.
„Also, wenn ihr mich mitnehmt beim nächsten Mal“, meinte Tobi, „dann schneide ich vorher Äpfel und Möhren klein für die Rehe.“
„So machen wir es, Tobi.“
„Sag mal Opa, wo schlafen die Rehe denn eigentlich?“
„Rehe schlafen im Gegensatz zu uns Menschen nicht mehrere Stunden am Stück, sondern leben im ständigen Wechsel zwischen Ruhe- und Wachphasen. Sie suchen sich dazu am liebsten einen Platz im Unterholz oder im hohen Gras, wo sie nicht so schnell gesehen werden. Und dann schlafen sie für etwa eine halbe Stunde, und danach sind sie wieder für ein paar Stunden wach.“
„Weißt du Opa, ich freu mich schon ganz doll darauf, wenn ihr mich mitnehmt. Vielleicht kann ich dann auch hören, wenn so ein Hirsch ganz laut ruft. Das hab ich mal im Fernsehen gehört.“
„Ja, die können ganz schön laut röhren, Tobi. Da hast du Recht. Aber weißt du, wenn sie das machen, dann fühlen sie sich nicht wohl.
Das machen die Hirsche nur, wenn Gefahr droht. Das werden wir dann wohl nicht hören, denn wir wollen ja keine Gefahr für die Tiere sein.“
„Nein, ich will der Freund der Rehe sein“, meinte der Junge.
„Tobi!“, rief Oma aus der Küche. „Hast du vom Zuhören Hunger bekommen?“
„Ja“, rief er, „großen Hunger!“
„Dann setzt euch an den Tisch, der Kaffee ist gleich fertig.“
„Und“, fragte Opa, „gibt es nur Kaffee?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Oma. „Zur Feier des Tages gibt es Rehrücken.“
Da erschrak Tobi.
Als Oma das entsetzte Gesicht ihres Enkels sah, ging sie schnell in die Küche und holte den Rehrücken hervor.
„Keine Angst, Tobi“, meinte Oma, „Opa hat kein Reh geschossen. Ich habe einen Kuchen gebacken, der so heißt. Es ist ganz viel Schokolade darin und Nüsse. Außerdem ist er ganz mit Schokolade überzogen. Und weil er so lang gezogen ist, wie der Rücken eines Rehs, deshalb heißt er wohl so“.
„Und die weißen Mandeln, dass sind die weißen Punkte des Kitzes“, rief Tobi erfreut aus.
„Ich sag es ja!“, jubelte Opa. „Der Junge ist ein Schlaumeier.“
„Na, dann kommt er ja ganz nach dir“, lachte Oma und servierte den beiden Kaffee, Kakao und ein leckeres Stückchen Schokoladenkuchen.

© Martina Pfannenschmidt, 2014