„Hast du alles eingepackt, was du mitnehmen
möchtest zu Oma und Opa?“, fragte Mama.
„Ja, Mami, alles in meinem Rucksack“, antwortete
Tobi.
„Na, dann lass uns fahren.“
Kurze Zeit später trafen Mama und Tobi bei den
Großeltern ein.
Opa Gerd und Oma Emmi warteten schon. Die zwei
waren seit einigen Jahren Rentner und nahmen sich viel Zeit für ihren Enkel.
Sie spielten mit ihm oder lasen Geschichten vor. Am schönsten fand es Tobi
allerdings, wenn Opa eine eigene Geschichte erzählte.
Deshalb setzte sich Tobi, nachdem Mama wieder
gefahren war, auch sogleich auf Opas Schoß.
„Opa, erzählst du mir eine Geschichte“, bat er.
„Aber nicht wieder so ein Jägerlatein, wie beim
letzten Mal“, rief Oma aus der Küche.
„Was ist dass, Oma“, fragte Tobi, „so ein
Jägerlatein?“
„Das heißt nichts anderes, als dass dir der Opa
nicht wieder einen Bären aufbinden soll“, hörte man aus der Küche.
„Aber Oma, was ist das nun wieder. Opa hat mir
doch noch nie einen Bären aufgebunden.“
Oma und Opa lachten.
„Oma meint“, schaltete sich nun Opa ein, „ich
solle dir nur Geschichten erzählen, die auch der Wahrheit entsprechen.“
„Aber das machst du doch immer, nicht wahr, Opa?“
„Natürlich, mein Junge“, erwiderte Opa. „Hab ich
dir schon einmal die Geschichte erzählt, als ich mit meinem Freund Franz in den
Wald gegangen bin, um Rehe zu beobachten?“
„Nein, davon hast du noch nie erzählt.“
„Na, dann pass mal gut auf, Tobi. Da kannst du
viel über die Rehe erfahren. Also das war so. Der Franz und ich, wir sind spät
am Abend, als es schon dunkel wurde, Richtung Wald gefahren. Wir wollten zum
Hochsitz. Den kennst du doch, Tobi?“
„Ja, den kenne ich. Als wir letztens einen
Spaziergang im Wald gemacht haben, da hat mir Papa einen gezeigt.“
„Und zu so einem Hochsitz da wollten wir. Auf dem
Weg dorthin schaute Franz immer wieder, ob er im Schnee Spuren von Rehen sehen
konnte. Es war nämlich Winter, als wir unterwegs waren und es lag Schnee. Dann
setzten wir uns oben in den Hochsitz und warteten. Ganz schön kalt wurde es
dort. Doch wir hatten heißen Tee dabei, um uns zu wärmen.
Wir mussten äußerst leise sein, denn Rehe leben in
freier Wildbahn und sind sehr scheu. Deshalb kommt es auch nur ganz selten zu
einer Begegnung zwischen Rehen und Menschen. Sobald die Rehe einen Menschen
wittern, laufen sie davon.“
„Meinst du, die Rehe würden auch weglaufen, wenn
ich mit einem Apfel in der Hand zu ihnen ginge?“, fragte Tobi.
„Ganz sicher, mein Junge!“, antwortete Opa.
„Erzähl weiter!“ forderte Tobi seinen Opa auf.
„Ja, ja. Nun warte es nur ab. Man muss sehr
geduldig sein auf so einem Hochsitz. Mit unserem Fernglas, mit dem man auch bei
Nacht die Tiere beobachten kann, suchten wir den Wald ab. Der Förster hatte an
dem Platz vor dem Hochsitz Heu für die Rehe deponiert, damit sie etwas zum
Fressen fanden. Kurze Zeit später sahen wir ein Reh mit seinem Kind. Weißt du,
Tobi, das Reh nennt man auch ‚Ricke’ und das Kind ‚Kitz’.“
„Aber das weiß ich doch, Opa. Das hat uns Frau
Müller im Kindergarten schon erzählt. Und ich weiß auch, wie der Papa heißt.
Der heißt nämlich Hirsch und hat ein ganz großes Geweih.“
„Du bist ein schlauer kleiner Kerl, Tobi. Genau so
ist es. Und weißt du, was wir dann noch beobachten konnten und das war etwas
ganz Besonderes?“
„Nein, dass kann ich doch nicht wissen, Opa!“
„Dann kam nämlich der Papa, der Hirsch, fraß
zunächst auch ein wenig von dem Heu und dann ging er zu einem dicken Baumstumpf
und schabte mit seinem Geweih so lange an ihm herum, bis das Gehörn abfiel.“
„Was? Das ist ja ganz schrecklich. So ein Hirsch
ganz ohne Geweih ist doch gar kein Hirsch mehr. Opa ist das jetzt vielleicht
Jägerlatein?“
Opa lachte wieder.
„Nein, mein Junge, das ist kein Jägerlatein. Die
Hirsche verlieren in jedem Winter ihr Geweih und dann wächst es wieder neu. Das
ist nicht gelogen, sondern die reine Wahrheit.“
Zum Zeichen, dass er die Wahrheit sagte, streckte
Opa Gerd drei Finger in die Luft, was soviel bedeutete wie: ‚Ich schwöre, die
Wahrheit zu sagen’.
„Weißt du denn auch, welche Farbe ihr Haarkleid
hat?“, fragte Opa weiter.
„Rehe sehen rot aus – oder so ein bisschen braun.“
„Rotbraun“ rief Oma aus der Küche.
„Ja, ihr habt Recht“, meinte Opa. „Doch im Winter,
da sieht es anders aus. Dann ist es nicht rotbraun, dann ist es graubraun. Das
ist das Winterfell, das die Tiere stärker vor der Kälte schützt. Die Haare
fallen dann im Frühjahr wieder aus und dann sehen die Rehe wieder rotbraun
aus.“
„Kann ich auch einmal mit auf den Hochstuhl, Opa?“
Wieder musste Opa lachen.
„Einen Hochstuhl hattest du, als du noch ganz
klein warst, lieber Tobi. Du meinst, du möchtest mit auf den Hochsitz. Ich
werde den Franz mal fragen, ob wir dich beim nächsten Mal mitnehmen können.
Aber dann musst du ganz still sein, darfst keinen Mucks sagen.“
„Das mach ich Opa, ganz bestimmt. Ich werde
mucksmäuschenstill sein.“
„Soll ich noch weiter erzählen?“
Tobi nickte.
„Rehe sind Vegetarier. Weißt du, was das bedeutet?“,
fragte Opa.
„Ja, das weiß ich. Das heißt, dass sie nur Gras,
Heu oder Obst fressen, aber keine Tiere.“
„Ganz richtig, Tobi. Und im Winter, da darf man
ihnen Äpfel oder Möhren bringen, die man in kleine Stückchen schneidet, denn
Rehe haben oben keine Zähne und können somit die Äpfel nicht anbeißen.“
„Genau wie bei dir, Opa. Wenn du deine Zähne
herausnimmst, dann kannst du auch in keinen Apfel beißen.“
Opa musste schmunzeln.
„Was man den Rehen nicht bringen darf“, erklärte
er dann, „sind zum Beispiel rohe Kartoffelschalen und auch keinen Kohl und kein
Brot. Das vertragen sie nicht. Und wenn Heu nass geworden ist, dann sollte man
es von der Futterstelle entfernen, da es leicht schimmelt“.
„Also, wenn ihr mich mitnehmt beim nächsten Mal“,
meinte Tobi, „dann schneide ich vorher Äpfel und Möhren klein für die Rehe.“
„So machen wir es, Tobi.“
„Sag mal Opa, wo schlafen die Rehe denn
eigentlich?“
„Rehe schlafen im Gegensatz zu uns Menschen nicht
mehrere Stunden am Stück, sondern leben im ständigen Wechsel zwischen Ruhe- und
Wachphasen. Sie suchen sich dazu am liebsten einen Platz im Unterholz oder im
hohen Gras, wo sie nicht so schnell gesehen werden. Und dann schlafen sie für
etwa eine halbe Stunde, und danach sind sie wieder für ein paar Stunden wach.“
„Weißt du Opa, ich freu mich schon ganz doll
darauf, wenn ihr mich mitnehmt. Vielleicht kann ich dann auch hören, wenn so
ein Hirsch ganz laut ruft. Das hab ich mal im Fernsehen gehört.“
„Ja, die können ganz schön laut röhren, Tobi. Da
hast du Recht. Aber weißt du, wenn sie das machen, dann fühlen sie sich nicht
wohl.
Das machen die Hirsche nur, wenn Gefahr droht. Das
werden wir dann wohl nicht hören, denn wir wollen ja keine Gefahr für die Tiere
sein.“
„Nein, ich will der Freund der Rehe sein“, meinte
der Junge.
„Tobi!“, rief Oma aus der Küche. „Hast du vom
Zuhören Hunger bekommen?“
„Ja“, rief er, „großen Hunger!“
„Dann setzt euch an den Tisch, der Kaffee ist
gleich fertig.“
„Und“, fragte Opa, „gibt es nur Kaffee?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Oma. „Zur
Feier des Tages gibt es Rehrücken.“
Da erschrak Tobi.
Als Oma das entsetzte Gesicht ihres Enkels sah,
ging sie schnell in die Küche und holte den Rehrücken hervor.
„Keine Angst, Tobi“, meinte Oma, „Opa hat kein Reh
geschossen. Ich habe einen Kuchen gebacken, der so heißt. Es ist ganz viel
Schokolade darin und Nüsse. Außerdem ist er ganz mit Schokolade überzogen. Und
weil er so lang gezogen ist, wie der Rücken eines Rehs, deshalb heißt er wohl
so“.
„Und die weißen Mandeln, dass sind die weißen
Punkte des Kitzes“, rief Tobi erfreut aus.
„Ich sag es ja!“, jubelte Opa. „Der Junge ist ein
Schlaumeier.“
„Na, dann kommt er ja ganz nach dir“, lachte Oma
und servierte den beiden Kaffee, Kakao und ein leckeres Stückchen
Schokoladenkuchen.
© Martina Pfannenschmidt, 2014