Freitag, 10. November 2017

Es ist mutig, zuzugeben, dass man feige ist!

Unter einem großen Stein inmitten einer riesigen Grünanlage wohnte Familie Käfer.
Mama Käfer rief ihre Rasselbande zusammen: „Sa, So, Mo, Di, Mi und Do, kommt bitte einmal her zu mir!“ Schon krochen fünf von ihnen unter dem Stein hervor und gesellten sich zu ihrer Mutter auf die Wiese.
„Wo steckt denn Mo schon wieder?“, fragte sie harsch. In dem Moment lugte der kleine Mo ganz vorsichtig mit seinem Köpfchen unter dem Stein hervor.
„Komm her!“, forderte ihn die Käfermama energisch auf. „Deine Geschwister warten schon auf dich. Ich möchte euch heute etwas zeigen, was sehr wichtig für euch ist. Auch für dich, Mo. Nun komm endlich.“
Seine Mutter hatte so streng gesprochen, dass er sich auf den Weg zu ihr machte, um sich ihren Unmut nicht noch mehr zuzuziehen. Dabei sah er möglichst unauffällig in alle Richtungen. Zu groß war seine Angst.
„Meine lieben Kinder“, begann die Mutter, „ihr müsst wissen, dass wir ganz besonders intelligente Käfer sind. Die Menschen versuchen schon lange, hinter unser Geheimnis zu kommen, doch sie haben es noch nicht gelüftet. Hört gut zu, wie sie uns nennen: Bombardierkäfer. Was sagt ihr jetzt?“
So, Bombardierkäfer waren sie. Toll! Doch was dies wirklich bedeutete, dass wussten sie noch nicht.
Dann sprach Mama Käfer weiter. „Wir beherrschen vermutlich den originellsten Trick des gesamten Tierreichs“, sagte sie nicht ohne Stolz in der Stimme.
Dann erhob sie sich, drehte ihr Hinterteil mal nach links, dann wieder nach rechts. Kurz darauf entwich eine ätzende Flüssigkeit ihrem Hinterleib - begleitet von einem unüberhörbaren Knall.“
Ihre Kinder zuckten zusammen. Was ihnen ihre Mutter gerade gezeigt hatte, war sensationell. Nur Mo fand das Ganze nicht so toll. Er saß wie versteinert da und zitterte wie Espenlaub. Seine Geschwister jedoch waren Feuer und Flamme und forderten ihre Mutter auf, sie in das Geheimnis dieser Explosion einzuführen. So probierten sie die unterschiedlichsten Schusstechniken aus, kicherten, als sie merkten, dass sie sogar um die Ecke schießen konnten und freuten sich an ihren Erfolgen. Alle, die ihnen nicht wohlgesinnt wären, würden sie mit diesem ätzenden und sehr heißen Gasgemisch, das sie aus ihren Hinterleibern katapultieren, verjagen. Alle beherrschten diese Technik sehr bald, nur Mo nicht. Er hatte es nicht einmal ausprobiert, denn bei jedem Knall, den seine Geschwister erzeugten, zuckte er zusammen. Niemals würde er auf andere schießen! Niemals!!!
So vergingen die Tage. Mo hielt sich immer in der unmittelbaren Nähe seines Steines auf, um sich schnell wieder darunter verstecken zu können, falls Gefahr drohte. Er wurde allerdings immer einsamer, denn seine Geschwister entfernten sich weiter und weiter von ihrem Stein. Sie suchten nach Nahrung und wurden sie von Feinden angegriffen, so schalteten sie diese kurzerhand aus. Mo wurde auch immer trauriger, denn wenn seine Geschwister wieder zurückkamen, prahlten sie mit ihren wagemutigen Taten. Mo musste sich in diesem Momenten eingestehen, dass er ein Feigling war.  
Als er wieder einmal sehr traurig war, beschloss er, an diesem besonders mutig zu sein und sich ein wenig mehr vom sicheren Stein zu entfernen, um ausgiebig zu fressen. Er schlich auf Zehenspitzen, um keinen Feind auf sich aufmerksam zu machen. Sein Herz klopfte dabei so laut, dass man hätte meinen können, die ganze Welt hätte es hören müssen. Plötzlich zeigte sich ein Schatten über ihm. Schlagartig erstarrte Mo und war weder in der Lage, nach vorn, noch nach hinten zu rennen. Er blieb einfach wie angewurzelt an seinem Platz stehen. Dass, was den Schatten machte, kam näher und näher. Jetzt hatte seine letzte Stunde geschlagen. Er wusste es! Wäre er doch bloß unter seinem Stein sitzen geblieben. Mo schloss die Augen und wartete auf sein Ende. Er wartete und wartete, doch nichts geschah. Ob er vielleicht schon tot war und gar nichts von seinem Ende mitbekommen hatte? Vorsichtig öffnete er ein Auge, um es ebenso schnell wieder zu schließen.
„Hallo, kleiner Käfer, was ist los mit dir? Du musst keine Angst vor mir haben!“
Noch einmal öffnete er ein Auge. Das Gesicht eines Kindes war direkt über ihm. Es war furcht erregend. Aber er lebte noch. Da war er sich ziemlich sicher.
„Was bist du denn für ein Käfer?“, ertönte es aus dem Mund seines Gegenübers. Sollte er es wagen, zu antworten? Gaaaaanz leise sprach er: „Ich bin ein Bombardierkäfer und wer bist du?“
„Ich bin Luisa“, stellte sich das Mädchen vor.
„Und ich heiße Mo!“
„Hallo Mo, was machst du denn hier so alleine?“
Es war so, als habe Mo nur auf diese Frage gewartet. Er erzählte Luisa von seiner Traurigkeit, weil er nicht so tapfer sei, wie seine Geschwister und sehr ängstlich. Das Mädchen hörte sich alles geduldig an.
„Wollen wir Freunde sein?“, fragte es dann rund heraus. Mo wusste vor Freude nicht, was er tun sollte. Er drehte und wendete sein Hinterteil und plötzlich schoss wie bei allen anderen Bombardierkäfern auch eine ätzende Flüssigkeit aus seinem Hinterleib und traf Luisas Finger.
„Au!“, schrie sie auf. „Na, du bist mir ja ein toller Freund.“
„Entschuldige bitte, es tut mir so leid. Ich hatte mir geschworen, niemals diese Flüssigkeit auszustoßen und jetzt ist es doch passiert. Wirklich, du musst mir glauben, ich wollte es nicht.“
„Aber Mo, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Es brennt ein wenig, doch bedenke, ich bin ein Mensch und kein Frosch, den du getroffen hast. Aber jetzt weißt du doch, dass du eigentlich keine Angst haben musst, denn du bekamst von der Natur dieses Geschenk, um dich gegen deine Feinde wehren zu können. Nimm es doch einfach dankbar an und setz es ein, wenn es nötig ist.“
Ob das Mädchen Recht hatte?
„Jetzt muss ich nach Hause, Mo, aber in ein paar Tagen komme ich wieder und dann erzählst du mir, welche Abenteuer du mit deinen Geschwistern erlebt hast.“
Als Mo wieder unter seinem Stein saß, dachte er über sich und sein Leben nach und er erkannte: Nichts zu wagen konnte furchtbar langweilig sein und Angst war der schlechteste Ratgeber, den man sich denken konnte.  


© Martina Pfannenschmidt, 2015