Der
November machte seinem Namen an diesem Tag alle Ehre und zeigte sich in allen
erdenklichen Grautönen. Jürgen schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Ihm war
kalt - und diese Kälte empfand er nicht nur äußerlich, er fror auch innerlich.
Ein
Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass noch Zeit blieb und so schlug er den Weg
Richtung Friedhof ein. Trotz der Kälte, die er empfand, setzte er sich auf eine
Bank, die unter einem Lindenbaum stand. Wenige braune Blätter baumelten noch an
seinen Zweigen und warteten auf den nächsten Herbststurm.
Unvermittelt
huschte ein Eichhörnchen über den Weg und verlor dabei eine Nuss, mit der es
sich für den Winter bevorraten wollte. Es bemerkte dies jedoch sogleich und
lief eilig ein paar Schritte zurück, um die Beute erneut an sich zu nehmen.
Putzig sah das aus. Diese ulkige Situation riss Jürgen für einen kurzen Moment
aus seinen bedrückenden Gedanken.
In
den letzten Tagen dachte er viel zurück an vergangene, glückliche Zeiten, die
längst vergessen schienen. Vielleicht lag es daran, dass er sich seit einiger
Zeit wieder einmal in dem Städtchen aufhielt, in dem er einst geboren worden
war. Hier hatte er bis zum Beginn seines Studiums mit seinen Eltern und seinem jüngeren
Bruder gelebt, der diesem Ort treu geblieben war. Er selbst kam nur noch für gelegentliche
Besuche hierher. Es schien ihm alles so eng, spießig und kleinbürgerlich zu
sein. Er liebte das Leben in der Großstadt und die Anonymität, die sie bietet.
Jürgen
vernahm die Pausenglocke der nahe gelegenen Schule, die er und sein Bruder vor
zig Jahren besucht hatten. Sofort kamen Erinnerungen an die Schulzeit in ihm
hoch. Sein Bruder, Ulli, der immer ermahnt werden musste, weil er wieder einmal
getrödelt oder heimlich unter dem
Tisch einen Papierflieger gebastelt
hatte.
Jürgen
kramte in seinem Gedächtnis nach dem Namen der Lehrerin, die stets mit Stöckelschuhen und einem engen Rock durch
die Klasse getrippelt war. Er erinnerte sich daran, dass sie einen Dutt trug,
den er einmal als ‚Krähennest’
bezeichnet und weshalb er sich eine schallende Ohrfeige eingefangen hatte.
Natürlich wusste Jürgen, dass es unverschämt
von ihm gewesen war, dies zu sagen, doch das berechtigte die Lehrerin noch
lange nicht, ihn zu schlagen. Es schien ihm, als habe er ihren Namen aus seinem
Gedächtnis gestrichen. Er wollte ihm einfach nicht einfallen.
Jürgen
sah sich um. Lange war er nicht auf einem Friedhof gewesen. Die Stille, die ihn
hier umgab, empfand er als unheimlich, ja schon fast als bedrohlich. Das
pulsierende Leben, von dem er sonst umgeben war, ließ ihn selten zur Ruhe
kommen und schon gar nicht über den Tod nachdenken. Hier an diesem Platz war
das anders. Da nahmen die Gedanken unweigerlich diesen Weg. Der Tod, der uns
oft näher ist, als wir ahnen, wurde uns nirgendwo bewusster, als an diesem Ort
der Trauer und des Abschieds. Wer, wie seine Eltern, fest im Glauben stand, war
davon überzeugt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Seine Eltern hatten stets
an ein Wiedersehen in einer anderen Welt geglaubt, - nein, das war so nicht
richtig: Sie waren felsenfest davon überzeugt gewesen. Ob sie wirklich wieder
beisammen waren? Ein wohliger Schauer durchzog ihn bei dem Gedanken.
Er
selbst hatte nie eine Familie gegründet. Es war ihm gar nicht in den Sinn
gekommen. In Jürgen stieg ein Gefühl auf, dass er so bisher nicht kannte. Es
war das Gefühl, dass ihm eine eigene Familie eines Tages fehlen könnte. Bisher
schien er den Gedanken daran mit seinem Beruf und der geringen Freizeit, die ihm
zur Verfügung stand, gar nicht vereinbaren zu können.
Jürgen
wollte jedoch nicht weiter darüber nachdenken. Es schien ihm einfacher, wenn
alles so blieb, wie es war. Doch gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass dies ein
Trugschluss war. Nichts, gar nichts, bleibt, wie es ist. Für niemanden. Das
Leben ist endlich. An diesem Platz wurde es ihm bis ins Mark hinein bewusst.
Das Leben, es ist ständigen Veränderungen unterworfen. Wir können die Zeit
nicht aufhalten. Jürgen empfand in diesem Moment eine große Leere und
Traurigkeit.
Jeder
Mensch würde wohl eines Tages an den Punkt angelangen, wo er feststellen
musste: Es war zu spät! Zu spät, die Richtung zu ändern. Zu spät, um sich mit
jemandem zu versöhnen. Und in seinem persönlichen Fall: Zu spät, eine Familie
zu gründen, Kinder zu haben.
Wieder
wanderten seine Gedanken zurück in seine Kindheit. Er ließ vor seinem geistigen
Auge Momente vorüberziehen, die ihm noch einmal zeigten, was es bedeutet,
Menschen um sich zu haben, die einem ihre ganze Liebe schenken. Er sah seine
Mutter vor sich, die vorsichtig über die Wunde pustete, als er sich das Knie
aufgeschlagen hatte und er erinnerte sich an die Worte, die sie dabei
gesprochen hatte: ‚Bis zur Hochzeit wird es wieder gut sein.’
Nun
wurde es allerdings Zeit, sich zu erheben, denn es galt, aus der Vergangenheit
wieder in die Gegenwart zurückzukehren, auch wenn ihm das Herz dabei sehr
schwer wurde. Immer wieder müssen wir Abschied nehmen. Dieses Loslassen der
Menschen, die uns nahe stehen, schien für Jürgen in diesem Moment eine der
schwierigsten Lebensaufgaben zu sein.
Tränen
rannen über seine Wangen, als er später ans Grab trat und flüsterte: „Tschüss,
kleiner Bruder!“
©
Martina
Pfannenschmidt, 2016