Freitag, 10. November 2017

Ein magischer Ort

Es bedurfte schon einiger Anstrengung, diesen Berg zu erklimmen, doch Alexander wusste, dass es sich lohnen würde, denn er war nicht zum ersten Mal hier. Damals, vor 5 Jahren, war er allerdings nicht so wie heute mit seinem Rennrad unterwegs, sondern er hatte sich einen Wagen gemietet.
Diese eine Steigung galt es noch zu überwinden, dann hätte er sein Ziel erreicht. Alex schmunzelte, denn diese Anstrengung heute war sinnbildlich für sein Leben. Ja, es hatte ihn einige Mühen gekostet, es zu verändern, doch es war ihm gelungen und er hatte das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.
Er stellte sein Rad zur Seite, nahm den Helm ab und betrachtete die Möwen, die unter dem blauen Himmelszelt kreischend ihre Bahnen zogen und er genoss diese erhabene Weite, die nun vor ihm lag. Dann setzte er sich, genau wie damals, auf den großen Felsen oberhalb des tiefblauen Meeres und atmete mit geschlossenen Augen tief durch. Eine große Welle klatschte gegen den Felsen und das Wasser ließ seine gewaltige Macht erkennen. An diesem Ort zeigte die Natur ihre allerschönste Seite.
Die Gedanken von Alex gingen unweigerlich zurück zu dem Tag vor fünf Jahren. Er wusste es noch wie heute, dass er hier gesessen und ihm ein Satz oder besser eine Aufforderung nicht aus dem Kopf gegangen war, die er zuvor in einem Buch gelesen hatte.
‚Stellen Sie sich vor’, hatte dort gestanden, ‚heute wäre ihr 80. Geburtstag und sie blickten zurück auf ihr Leben und Sie schrieben einen Brief an sich selbst in die Jetztzeit! Was würden Sie sich schreiben?’
Dieser Satz hatte ihn aufgewühlt und ihm bewusst gemacht, dass er nicht ewig leben würde und die Zeit, um sein Leben lebenswert zu gestalten, begrenzt war. Der Gedanke, eines Tages 80 Jahre alt zu sein und dann vielleicht erkennen zu müssen, sein Leben vergeudet zu haben, hatte ihn gerade noch rechtzeitig wach gerüttelt.
Alexander griff in seine rechte Hosentasche und holte einen Umschlag hervor. Darin war der Brief, den er damals an sich gerichtet hatte und er begann zu lesen!
‚Lieber Alex, du bist jetzt 38 Jahre alt, und du hast viel in deinem Leben erreicht. Du bist ein erfolgreicher Arzt, so wie es dein Vater auch ist und wie er es sich immer gewünscht hat. Du hast nicht nur dein Auskommen, du bist reich, zumindest an materiellen Dingen, und deine zahlreichen so genannten Freunde sind es auch. Doch sei bitte ein einziges Mal ehrlich zu dir selbst. Bist du wirklich glücklich? Dein Leben scheint perfekt, doch ist es das auch? Was ist aus all deinen Träumen geworden? Als du 30 Jahre alt wurdest, hast du dir geschworen, eine Auszeit zu nehmen und für ein Jahr durch Amerika zu reisen. Darf ich dich fragen, was daraus geworden ist? Du hast es nicht gemacht. Ja, ich weiß! Es ginge nicht, dachtest du, weil dein Vater erkrankte und du von heute auf morgen allein in der Praxis warst. Du hilft den Menschen, dass ist eine wichtige Aufgabe, doch wer hilft dir? Wer hört dir zu, fragt, wie es dir geht? Warum schaust du dich nicht nach einem Kompagnon um? Weil du es deinem Vater nicht antun möchtest? Ich kann dir sagen, wohin dein Leben führt, wenn du nichts veränderst. Es führt dich von einem Tag zum anderen – aber ohne Freude. Du gehst von einer Party zur nächsten, führst ein oberflächliches Privatleben, dass dir, wenn du ehrlich zu dir selbst bist, keine Freude bereitet. Darf ich dich fragen, warum du immer noch mit Jessica zusammen bleibst, obwohl du längst erkannt hast, dass ihr überhaupt nicht zueinander passt. Warum trennst du dich nicht von ihr und von allem, was dir und deinem Leben nicht gut tut und nicht zu dir passt? Stell dir vor, wie es ist, wenn du deinen 80. Geburtstag feierst und dein Leben so weitergeht, wie jetzt. Dann kannst du nichts mehr rückgängig machen oder verändern. Sieh zu, dass dein Leben lebenswert wird und zieh die Notbremse – jetzt!’

Er hatte diesen Brief damals in einen Umschlag gesteckt und an sich selbst gerichtet. Als er zwei Tage später in seinem Briefkasten gelegen hatte, wusste er genau, was er wollte und dieses Ziel hatte er nicht mehr aus den Augen verloren. Alex hatte erkannt, dass die Wohnung, in der er mit Jessica lebte, wie ein goldener Käfig für ihn war, in dem er sich nicht frei, sondern gefangen fühlte. Jessica hatte sie eingerichtet, denn sie war eine erfolgreiche Innenarchitektin. Wenn er ehrlich zu sich war, dann war die Wohnung zwar sehr schick, doch ein Zuhause war sie für ihn nicht und warum hatte er eigentlich den Wunsch nach Kindern aufgegeben? Nur weil Jessica keine haben wollte? Was hielt ihn noch bei ihr und in dieser Wohnung?
Noch am selben Abend hatte er seine Koffer gepackt und sich von seiner Lebensgefährtin getrennt. Er war dann in einer einfachen aber sauberen Pension untergekommen, bis er wusste, wie es für ihn weitergehen würde.
Bereits den nächsten Tag hatte er für ein Gespräch mit seinen Eltern genutzt. Er hatte ihnen von der Trennung erzählt und auch, dass er sein Leben völlig neu strukturieren möchte. Sie hatten ihm eine Weile zugehört und wider Erwarten großes Verständnis für ihn gezeigt. Sein Vater war einverstanden, einen weiteren Arzt in die Praxis zu holen und auch damit, dass Alex eine Auszeit nahm, sobald es seinem Vater besser ging und er wieder praktizieren würde.
Das alles lag jetzt lange zurück und heute konnte er sagen, er hatte es tatsächlich geschafft, alte Muster zu durchbrechen und dadurch sein Leben in andere Bahnen zu lenken.
Alex hatte seinen Traum wahr werden lassen und war tatsächlich für ein Jahr durch Amerika gereist. Inzwischen hatte er sich ein kleines Haus gekauft und gemütlich eingerichtet. Nur die Tatsache, dass er es alleine bewohnte, machte ihn ein wenig traurig.
Als er so gedankenverloren auf dem Felsen saß, überkam ihn plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Erschrocken sah er sich um und schaute direkt in die schönsten blauen Augen, die er jemals gesehen hatte.
„Entschuldigung“, sagte die junge Frau die zu diesen Augen gehörte, „ich wollte sie nicht stören. Sie waren so in sich gekehrt, dass sie mich gar nicht wahrgenommen haben.“
Alex konnte seinen Blick nicht von diesen Augen lösen, es schien ihm, als würde er darin versinken.
„Ich habe Sie tatsächlich nicht gehört“, antwortete er dann.
„Wissen Sie“, sagte die junge Frau, „seit fünf Jahren mache ich hier Urlaub und jedes Mal werde ich von diesem geheimnisvollen Ort angezogen. Es kommt mir so vor, als würde ich hier etwas finden, wonach ich schon so lange suche.“
Sie blieben dort noch eine ganze Weile schweigend nebeneinander sitzen. Ob sie ahnten, dass sie in jedem Jahr an ihrem Hochzeitstag hierher kommen würden, um ihren Kindern von diesem mystischen Ort zu erzählen?


© Martina Pfannenschmidt, 2014