Freitag, 10. November 2017

Die traurige Kerze

„Puh, heute ist ein scheußlicher Tag“, rief Anna, als sie aus der Schule nach Hause kam und die Küche betrat.
„Hallo, meine Süße!“, sagte Mama. „Ja, du hast Recht, heute ist es scheußlich. Deshalb habe ich uns einen deftigen Eintopf gekocht, der uns von innen wärmen kann.“
„Eintopf?“ Anna war mäßig begeistert. „Na gut, wenn du meinst, er wärmt mich auf, dann esse ich ihn halt.“
„Nun zieh mal keine Schnute, er wird dir bestimmt schmecken.“
Eine kurze Zeit später saßen Mutter und Tochter am Küchentisch. Der Eintopf schmeckte Anna besser, als sie zunächst gedacht hatte, doch das verriet sie ihrer Mutter nicht.
„Wir haben heute keine Hausaufgaben auf“, sagte Anna. „Kann ich dann zu Sophie gehen?“
„Von mir aus gerne“, antwortete Mama. „Habt ihr denn schon eine Uhrzeit ausgemacht?“
„Nein, bisher nicht. Ich rufe sie gleich mal an“, meinte Anna und war schon Richtung Telefon unterwegs.
Nach einiger Zeit kam sie betrübt in die Küche zurück.
„Sophie hat heute keine Zeit. So was Blödes. Was mach ich denn nun? Mir ist jetzt schon langweilig“, maulte Anna.
„Du könntest lesen, puzzeln oder deine Nase in das Vokabelheft stecken“, schlug Mama vor.
„Ne, keine Lust“, nörgelte Anna herum.
„Na, dann muss ich mir wohl etwas einfallen lassen, um meine Tochter zu bespaßen“, lachte Mama. „Was hältst du davon, wenn wir Kerzen ziehen.“
Annas Gesicht hellte sich auf.
„Das ist eine prima Idee. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Wollen wir gleich loslegen?“
„Lass mich zunächst die Küche aufräumen, dann können wir beginnen“, meinte Mama. „Du kannst schon mal alle Kerzenreste zusammen suchen, aus denen wir neue Kerzen ziehen können.“
Anna war mit Feuereifer dabei. Sie brachte alle Kerzenstumpen in die Küche. Mama holte einen alten Topf aus dem Keller und dann ging es los.
Als das Wachs die passende Temperatur hatte, hielt Anna einen Docht hinein. Die Kerzenreste vermischten sich zu einer eigenwilligen Farbe, die Anna nicht besonders gefiel. Dennoch machte ihr das Kerzenziehen Freude. Zu sehen, wie die Kerze dicker und dicker wurde, war spannend.
Nach einiger Zeit entstand eine ansehnliche Kerze, für die Anna sogar einen passenden Kerzenständer fand. Da sie farblich jedoch nicht so gelungen war, stellte Anna sie in die hinterste Ecke ihres Zimmers. Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, Musik zu hören und zu lesen.
Die dicke Kerze sah sich interessiert im Zimmer um. Wo war sie hier gelandet? Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte sie Musik. Das gefiel ihr. Wenn sie nur nicht so weit hinten in der Ecke stehen würde, dann könnte sie das Mädchen besser beobachten. Schade. So begnügte sie sich damit, der Musik zu lauschen. Die Wochen vergingen. Die Kerze stand immer noch hinten in der Ecke und das machte sie traurig. Manchmal war sie ganz verzweifelt, da sie keinen Sinn in ihrem Leben sah. Wozu war sie nur erschaffen worden. Niemand beachtete sie. Sie war nicht einmal besonders hübsch, hatte Anna einmal gesagt.
Es war ein dunkler Herbsttag, als die Kerze wieder einmal sehr traurig war. Gott sei Dank konnte sie von ihrem Platz aus nach draußen schauen, sonst wäre sie vor lauter Traurigkeit schon gestorben.
Heute herrschte ein mächtiger Sturm. Die Äste der dicken Eiche, die vor dem Fenster stand, neigten sich hin und her. Der Wind sauste um das Haus und gab Furcht erregende Töne von sich.
Anna betrat gemeinsam mit ihrer Freundin Sophie das Zimmer. Beide Mädchen betrachteten ebenso wie die Kerze das Schauspiel draußen.
Die Kerze hörte, wie Anna mit ihrer Freundin sprach.
„Hoffentlich legt sich der Sturm heute Abend, wenn meine Eltern ausgehen“, meinte Anna.
„Macht doch nichts. Lass den Wind doch heulen. Das stört doch niemanden. Und du bist ja nicht alleine. Ich bleibe doch bei dir.“
„Das ist auch gut so. Ich glaube, sonst wäre mir schon etwas mulmig zumute“, prophezeite Anna.
Dann rief Annas Mama die beiden Mädels zum Abendessen in die Küche. Die Kerze blieb traurig und einsam zurück.
Der Sturm wurde immer heftiger. Annas Eltern hatten inzwischen das Haus verlassen und die beiden Freundinnen saßen vor dem Fernseher. Den Film durften sie bis zum Ende schauen, aber dann sollten sie sich schlafen legen.
Immer wieder flackerten die Fernsehbilder. „Das liegt am Sturm“, sagte Sophie. „Das war beim letzten Herbststurm genau so. Ich kann mich noch gut daran erinnern.“
Pitsch! Der Fernseher ging aus und alle Lampen der Wohnung ebenso.
„Ach du meine Güte“, rief Anna. „Der Strom ist ausgefallen. Bist du noch neben mir, Sophie?“, rief sie panisch.
„Ja klar, wo soll ich denn sonst sein.“
„Sophie, ich hab Angst. Es ist so dunkel. Mach was.“
„Na, du bist gut“, murrte Sophie. „Was soll ich denn deiner Meinung nach machen. Wir brauchen eine Kerze Anna und ein Feuerzeug oder Streichhölzer. Wo finde ich das denn?“
Anna überlegte. Dann fiel ihr die Kerze in ihrem Zimmer ein.
Sophie schlich langsam in Annas Zimmer und holte die Kerze.
„So“, sagte Sophie an die Kerze gerichtet. „Du kommst jetzt mit und spendest uns Licht.“
Was sollte sie machen? Licht spenden? Aber sie wusste doch gar nicht, wie man das macht.
Anna fand trotz der Dunkelheit ein Feuerzeug und hielt die kleine Flamme nun an den Docht der Kerze, die stumm, aber sehr aufgeregt, auf dem Tisch stand.
Dann wurde es hell im Raum. Doch woher kam plötzlich das Licht? Wohin die Kerze auch sah, sie fand die Lichtquelle nicht. Eigenartig.
„Gut, dass wir die Kerze haben“, sagte Sophie, „sonst wäre es jetzt verdammt dunkel und ungemütlich. Aber so ist es richtig schön. Die Kerze verbreitet ein schönes und warmes Licht.“
Wie bitte? Was sagte Sophie da. Sie, die Kerze, sollte ein warmes Licht verbreiten?
Dann sah sie nach oben und traute ihren Augen kaum. Sie war die Lichtquelle! Sie, die hässliche dicke Kerze, die niemand beachtete, war zu einer Lichtquelle für andere geworden.
Stolz schenkte die Kerze der Flamme ihr Wachs, auch wenn sie dadurch ihr eigenes Leben aushauchte. Niemals hätte sie gedacht, dass sie so wertvoll wäre.

© Martina Pfannenschmidt, 2014