„Puh, heute ist ein
scheußlicher Tag“, rief Anna, als sie aus der Schule nach Hause kam und die
Küche betrat.
„Hallo, meine Süße!“,
sagte Mama. „Ja, du hast Recht, heute ist es scheußlich. Deshalb habe ich uns
einen deftigen Eintopf gekocht, der uns von innen wärmen kann.“
„Eintopf?“ Anna war mäßig
begeistert. „Na gut, wenn du meinst, er wärmt mich auf, dann esse ich ihn
halt.“
„Nun zieh mal keine
Schnute, er wird dir bestimmt schmecken.“
Eine kurze Zeit später
saßen Mutter und Tochter am Küchentisch. Der Eintopf schmeckte Anna besser, als
sie zunächst gedacht hatte, doch das verriet sie ihrer Mutter nicht.
„Wir haben heute keine
Hausaufgaben auf“, sagte Anna. „Kann ich dann zu Sophie gehen?“
„Von mir aus gerne“,
antwortete Mama. „Habt ihr denn schon eine Uhrzeit ausgemacht?“
„Nein, bisher nicht. Ich
rufe sie gleich mal an“, meinte Anna und war schon Richtung Telefon unterwegs.
Nach einiger Zeit kam sie
betrübt in die Küche zurück.
„Sophie hat heute keine
Zeit. So was Blödes. Was mach ich denn nun? Mir ist jetzt schon langweilig“,
maulte Anna.
„Du könntest lesen,
puzzeln oder deine Nase in das Vokabelheft stecken“, schlug Mama vor.
„Ne, keine Lust“, nörgelte
Anna herum.
„Na, dann muss ich mir
wohl etwas einfallen lassen, um meine Tochter zu bespaßen“, lachte Mama. „Was
hältst du davon, wenn wir Kerzen ziehen.“
Annas Gesicht hellte sich
auf.
„Das ist eine prima Idee.
Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Wollen wir gleich loslegen?“
„Lass mich zunächst die
Küche aufräumen, dann können wir beginnen“, meinte Mama. „Du kannst schon mal
alle Kerzenreste zusammen suchen, aus denen wir neue Kerzen ziehen können.“
Anna war mit Feuereifer
dabei. Sie brachte alle Kerzenstumpen in die Küche. Mama holte einen alten Topf
aus dem Keller und dann ging es los.
Als das Wachs die passende
Temperatur hatte, hielt Anna einen Docht hinein. Die Kerzenreste vermischten
sich zu einer eigenwilligen Farbe, die Anna nicht besonders gefiel. Dennoch
machte ihr das Kerzenziehen Freude. Zu sehen, wie die Kerze dicker und dicker
wurde, war spannend.
Nach einiger Zeit entstand
eine ansehnliche Kerze, für die Anna sogar einen passenden Kerzenständer fand.
Da sie farblich jedoch nicht so gelungen war, stellte Anna sie in die hinterste
Ecke ihres Zimmers. Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, Musik zu
hören und zu lesen.
Die dicke Kerze sah sich
interessiert im Zimmer um. Wo war sie hier gelandet? Zum ersten Mal in ihrem
Leben hörte sie Musik. Das gefiel ihr. Wenn sie nur nicht so weit hinten in der
Ecke stehen würde, dann könnte sie das Mädchen besser beobachten. Schade. So
begnügte sie sich damit, der Musik zu lauschen. Die Wochen vergingen. Die Kerze
stand immer noch hinten in der Ecke und das machte sie traurig. Manchmal war
sie ganz verzweifelt, da sie keinen Sinn in ihrem Leben sah. Wozu war sie nur
erschaffen worden. Niemand beachtete sie. Sie war nicht einmal besonders
hübsch, hatte Anna einmal gesagt.
Es war ein dunkler
Herbsttag, als die Kerze wieder einmal sehr traurig war. Gott sei Dank konnte
sie von ihrem Platz aus nach draußen schauen, sonst wäre sie vor lauter
Traurigkeit schon gestorben.
Heute herrschte ein
mächtiger Sturm. Die Äste der dicken Eiche, die vor dem Fenster stand, neigten
sich hin und her. Der Wind sauste um das Haus und gab Furcht erregende Töne von
sich.
Anna betrat gemeinsam mit
ihrer Freundin Sophie das Zimmer. Beide Mädchen betrachteten ebenso wie die
Kerze das Schauspiel draußen.
Die Kerze hörte, wie Anna
mit ihrer Freundin sprach.
„Hoffentlich legt sich der
Sturm heute Abend, wenn meine Eltern ausgehen“, meinte Anna.
„Macht doch nichts. Lass
den Wind doch heulen. Das stört doch niemanden. Und du bist ja nicht alleine.
Ich bleibe doch bei dir.“
„Das ist auch gut so. Ich
glaube, sonst wäre mir schon etwas mulmig zumute“, prophezeite Anna.
Dann rief Annas Mama die
beiden Mädels zum Abendessen in die Küche. Die Kerze blieb traurig und einsam
zurück.
Der Sturm wurde immer
heftiger. Annas Eltern hatten inzwischen das Haus verlassen und die beiden
Freundinnen saßen vor dem Fernseher. Den Film durften sie bis zum Ende schauen,
aber dann sollten sie sich schlafen legen.
Immer wieder flackerten
die Fernsehbilder. „Das liegt am Sturm“, sagte Sophie. „Das war beim letzten
Herbststurm genau so. Ich kann mich noch gut daran erinnern.“
Pitsch! Der Fernseher ging
aus und alle Lampen der Wohnung ebenso.
„Ach du meine Güte“, rief
Anna. „Der Strom ist ausgefallen. Bist du noch neben mir, Sophie?“, rief sie
panisch.
„Ja klar, wo soll ich denn
sonst sein.“
„Sophie, ich hab Angst. Es
ist so dunkel. Mach was.“
„Na, du bist gut“, murrte
Sophie. „Was soll ich denn deiner Meinung nach machen. Wir brauchen eine Kerze
Anna und ein Feuerzeug oder Streichhölzer. Wo finde ich das denn?“
Anna überlegte. Dann fiel
ihr die Kerze in ihrem Zimmer ein.
Sophie schlich langsam in
Annas Zimmer und holte die Kerze.
„So“, sagte Sophie an die
Kerze gerichtet. „Du kommst jetzt mit und spendest uns Licht.“
Was sollte sie machen?
Licht spenden? Aber sie wusste doch gar nicht, wie man das macht.
Anna fand trotz der
Dunkelheit ein Feuerzeug und hielt die kleine Flamme nun an den Docht der
Kerze, die stumm, aber sehr aufgeregt, auf dem Tisch stand.
Dann wurde es hell im
Raum. Doch woher kam plötzlich das Licht? Wohin die Kerze auch sah, sie fand
die Lichtquelle nicht. Eigenartig.
„Gut, dass wir die Kerze haben“,
sagte Sophie, „sonst wäre es jetzt verdammt dunkel und ungemütlich. Aber so ist
es richtig schön. Die Kerze verbreitet ein schönes und warmes Licht.“
Wie bitte? Was sagte
Sophie da. Sie, die Kerze, sollte ein warmes Licht verbreiten?
Dann sah sie nach oben und
traute ihren Augen kaum. Sie war die Lichtquelle! Sie, die hässliche dicke
Kerze, die niemand beachtete, war zu einer Lichtquelle für andere geworden.
Stolz schenkte die Kerze
der Flamme ihr Wachs, auch wenn sie dadurch ihr eigenes Leben aushauchte.
Niemals hätte sie gedacht, dass sie so wertvoll wäre.
© Martina Pfannenschmidt, 2014