Freitag, 10. November 2017

Der alte Krämerladen (1)

Helene setzte sich auf den alten wackligen Stuhl und sah sich in dem alten Ladenraum um. Es war ihr, als höre sie Stimmen – die Stimmen der Kinder, die hier früher mit verschmiertem Mund und klebrigen Fingern ein paar schwarze Pfennigstücke auf den Ladentisch legten und um Bonbons baten, die ihnen Helenes Onkel dann abgezählt in einer kleinen Spitztüte überreichte.
„Ach, Onkel Wilhelm, was hast du dir nur dabei gedacht, mir dein Haus mit diesem alten Laden zu vermachen. Was soll ich denn damit anfangen?“
Sie sah sich um, so als würde sie nach etwas suchen, doch das einzige, was ihr in den Blick kam, war ein Buch, das er vielleicht gelesen hatte und das nun staubig in dem ansonsten leeren Regal lag.
Ihr Blick fiel auf den alten Schaukelstuhl, der in der Ecke stand und es war ihr, als säße ihr Onkel noch darin mit einer Bierflasche in der Hand, um sein verdientes Feierabendbierchen zu trinken.
Helene erinnerte sich gerne zurück an die Zeit, als sie einen Teil ihrer Sommerferien bei ihrem Onkel und ihrer Tante auf dem Land hatte verbringen dürfen. Ach, wie unbeschwert war diese Zeit gewesen.
Ihr war jedoch bewusst, dass der Blick zurück gerne an schönen Erinnerungen hängen bleibt und sie heute sicherlich mit einem verklärten Blick auf das damalige Dorfleben schaute. Doch eines stimmte: Die Menschen damals waren sehr bescheiden und ihr Leben wurde von schwerer Arbeit geprägt. Doch auch in diesem Ort war die Zeit nicht stehen geblieben. Die Mädchen von damals hatten ihre Zöpfe längst abgeschnitten und die schwere Arbeit auf den Feldern wurde nicht mehr mit Muskelkraft erledigt, sondern von großen, computergesteuerten Maschinen.
In diesem Laden jedoch schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Nachdem ihre Tante vor einigen Jahren verstorben war, hatte ihr Onkel den Krämerladen aufgeben müssen. Nicht nur der Tod seiner Frau war schwer für ihn gewesen, nein, die Aufgabe seines Ladens hatte ihm das Herz gebrochen. Jetzt war er seiner Frau gefolgt und Helene stand alleine da mit diesem Gebäude, das ihr in diesem Moment wie ein Klotz am Bein schien. Was sollte sie damit anfangen? Es verkaufen? Was sonst! Sie war ja nur hier, weil sie die einzige Angehörige war und sich um die Beerdigung und alle Formalitäten hatte kümmern müssen. Jetzt wollte sie in ihr altes Leben zurückkehren! Obwohl: Das gab es ja eigentlich gar nicht mehr. Seit sie  Rentnerin geworden war, hatte sich ihr Leben dramatisch verändert und sie konnte sich so ein bisschen in ihren Onkel hineinfühlen. Auch ihr fehlte jetzt eine Aufgabe. Doch wo fand sich die in ihrem Alter?
Helene wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Marianne an die Scheibe der alten Ladentür klopfte und sich die Nase daran platt drückte. Helene musste schmunzeln und dachte: ‚Wie früher, als wir noch Kinder waren und unsere Ferien hier zusammen verbrachten.’
„Hallo Helene“, wurde sie freudig begrüßt, „ich sah dich gerade hier gedankenverloren im Laden sitzen und bei mir kamen Erinnerungen hoch. War schon eine schöne Zeit mit uns beiden – oder?“
Helene nickte. „Ja, gewiss. Ich erinnere mich gerne an die warmen Sommer und an Onkel Wilhelm, Tante Anna und natürlich an dich zurück.“
„Und?“, fragte Marianne, „was machst du jetzt mit dem Haus und dem alten Laden hier? Verkaufen?“
„Wahrscheinlich.“
Marianne vernahm das leise Zögern, was ihr den Mut gab, ihre Gedanken mit ihrer Freundin aus Jugendzeiten zu teilen.
„Halt mich jetzt bitte nicht für verrückt, Lenchen, aber ich hab schon gedacht, ob du nicht vielleicht hierher ziehen möchtest. Es wäre so schön, wenn wir zwei wieder Zeit miteinander verbringen könnten. Wir haben uns doch immer gut verstanden und ich habe den Eindruck, als wenn das heute noch so ist.“
„Hierher ziehen“, fragte Helene verwundert, „wie stellst du dir das denn vor?“
Schon sprudelte es aus Marianne heraus. „Weißt du, Lenchen, ich hab mir schon länger gedacht, dass unserem Ort ein Platz gut täte, an dem man sich trifft. Wo ältere, einsame Menschen die Möglichkeit bekommen, gemeinsam zu frühstücken oder ein warmes Mittagessen einzunehmen. Vielleicht mit einer kleinen Milchbar, wo sich die jungen Leute des Ortes treffen, wo man auch ein Eis essen kann. Ein Ort des Gespräches, ein Ort, an dem man zusammen kommt und seine Zeit verbringt oder einfach nur bei einer Tasse Kaffee klönt. Klar ist das ein Geschäftsmodell, das nicht viel oder vielleicht gar nichts einbringen wird, außer dem Dank der Menschen. Reich werden kann man damit sicher nicht, aber glücklich, weil man andere glücklich macht. Wie denkst du darüber?“
„Ich denke, liebe Marianne, du bist nicht ganz bei Trost. Wie stellst du dir das denn vor? Ich kann doch nicht mir nichts dir nichts alles aufgeben, was bisher zu meinem Leben gehörte und hier ganz neu beginnen.“ Nach einem kurzen Zögern fügte sie an: „Gut, ich habe keine Familie dort, nur ein paar wenige Freunde. Aber du hast einen Mann. Was sagt der denn zu deinen Plänen?“
„Ach der, der weiß davon gar nichts. Außerdem wollte ich zuerst mit dir sprechen. Mein Mann hält mich doch sowieso nur für eine graue Maus mit allen typischen Eigenschaften dieses Nagers: naschhaft, durch Leckenbissen bestechlich und neugierig.“ Marianne lachte laut. „Er wohnt doch nur noch mit mir unter einem Dach und wir ernähren uns sozusagen von denselben Vorräten.“
Helene hörte Marianne aufmerksam zu. Nach einer glücklichen Ehe klang das nicht.
„Ach, Lenchen, denk bitte ernsthaft darüber nach. Ich würde mir so sehr eine Freundin, wie du es bist, an meiner Seite wünschen. Und wenn wir dann noch gemeinsam etwas auf die Beine stellen könnten, wäre das einfach großartig. Bitte, denk darüber nach! Versprichst du es mir?“
„Versprochen!“, antwortete Helene, doch sie wusste in diesem Moment noch nicht, ob es ihr wirklich gelingen würde, die Tür zum Gestern zu schließen, etwas völlig Neues zu wagen und sich davon überraschen zu lassen, was das Leben ihr noch zu geben bereit war.

© Martina Pfannenschmidt, 2017