Helene
setzte sich auf den alten wackligen Stuhl und sah sich in dem alten Ladenraum
um. Es war ihr, als höre sie Stimmen – die Stimmen der Kinder, die hier früher
mit verschmiertem Mund und klebrigen Fingern ein paar schwarze Pfennigstücke
auf den Ladentisch legten und um Bonbons baten, die ihnen Helenes Onkel dann
abgezählt in einer kleinen Spitztüte überreichte.
„Ach,
Onkel Wilhelm, was hast du dir nur dabei gedacht, mir dein Haus mit diesem
alten Laden zu vermachen. Was soll ich denn damit anfangen?“
Sie
sah sich um, so als würde sie nach etwas suchen,
doch das einzige, was ihr in den Blick kam, war ein Buch, das er vielleicht gelesen hatte und das nun staubig in dem ansonsten leeren Regal
lag.
Ihr
Blick fiel auf den alten Schaukelstuhl, der in der Ecke stand und es war ihr,
als säße ihr Onkel noch darin mit einer Bierflasche
in der Hand, um sein verdientes Feierabendbierchen zu trinken.
Helene
erinnerte sich gerne zurück an die Zeit, als sie einen Teil ihrer Sommerferien
bei ihrem Onkel und ihrer Tante auf dem Land hatte verbringen dürfen. Ach, wie
unbeschwert war diese Zeit gewesen.
Ihr
war jedoch bewusst, dass der Blick zurück gerne an schönen Erinnerungen hängen
bleibt und sie heute sicherlich mit einem verklärten Blick auf das damalige
Dorfleben schaute. Doch eines stimmte: Die Menschen damals waren sehr
bescheiden und ihr Leben wurde von schwerer Arbeit geprägt. Doch auch in diesem
Ort war die Zeit nicht stehen geblieben. Die Mädchen von damals hatten ihre
Zöpfe längst abgeschnitten und die schwere Arbeit auf den Feldern wurde nicht
mehr mit Muskelkraft erledigt, sondern von großen, computergesteuerten
Maschinen.
In
diesem Laden jedoch schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Nachdem ihre
Tante vor einigen Jahren verstorben war, hatte ihr Onkel den Krämerladen aufgeben müssen. Nicht nur
der Tod seiner Frau war schwer für ihn gewesen, nein, die Aufgabe seines Ladens
hatte ihm das Herz gebrochen. Jetzt war er seiner Frau gefolgt und Helene stand
alleine da mit diesem Gebäude, das ihr in diesem Moment wie ein Klotz am Bein
schien. Was sollte sie damit anfangen? Es verkaufen? Was sonst! Sie war ja nur
hier, weil sie die einzige Angehörige war und sich um die Beerdigung und alle
Formalitäten hatte kümmern müssen. Jetzt wollte sie in ihr altes Leben
zurückkehren! Obwohl: Das gab es ja eigentlich gar nicht mehr. Seit sie Rentnerin geworden war, hatte sich ihr Leben dramatisch
verändert und sie konnte sich so ein bisschen in ihren Onkel hineinfühlen. Auch
ihr fehlte jetzt eine Aufgabe. Doch wo fand sich die in ihrem Alter?
Helene
wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Marianne an die Scheibe der alten
Ladentür klopfte und sich die Nase daran platt drückte. Helene musste
schmunzeln und dachte: ‚Wie früher, als wir noch Kinder waren und unsere Ferien
hier zusammen verbrachten.’
„Hallo
Helene“, wurde sie freudig begrüßt, „ich sah dich gerade hier gedankenverloren
im Laden sitzen und bei mir kamen Erinnerungen hoch. War schon eine schöne Zeit
mit uns beiden – oder?“
Helene
nickte. „Ja, gewiss. Ich erinnere mich gerne an die warmen Sommer und an Onkel
Wilhelm, Tante Anna und natürlich an dich zurück.“
„Und?“,
fragte Marianne, „was machst du jetzt mit dem Haus und dem alten Laden hier?
Verkaufen?“
„Wahrscheinlich.“
Marianne
vernahm das leise Zögern, was ihr den Mut gab, ihre Gedanken mit ihrer Freundin
aus Jugendzeiten zu teilen.
„Halt
mich jetzt bitte nicht für verrückt, Lenchen, aber ich hab schon gedacht, ob du
nicht vielleicht hierher ziehen möchtest. Es wäre so schön, wenn wir zwei
wieder Zeit miteinander verbringen könnten. Wir haben uns doch immer gut
verstanden und ich habe den Eindruck, als wenn das heute noch so ist.“
„Hierher
ziehen“, fragte Helene verwundert, „wie stellst du dir das denn vor?“
Schon
sprudelte es aus Marianne heraus. „Weißt du, Lenchen, ich hab mir schon länger
gedacht, dass unserem Ort ein Platz gut täte, an dem man sich trifft. Wo
ältere, einsame Menschen die Möglichkeit bekommen, gemeinsam zu frühstücken
oder ein warmes Mittagessen einzunehmen. Vielleicht mit einer kleinen Milchbar,
wo sich die jungen Leute des Ortes treffen, wo man auch ein Eis essen kann. Ein
Ort des Gespräches, ein Ort, an dem man zusammen kommt und seine Zeit verbringt
oder einfach nur bei einer Tasse Kaffee klönt. Klar ist das ein
Geschäftsmodell, das nicht viel oder vielleicht gar nichts einbringen wird,
außer dem Dank der Menschen. Reich werden kann man damit sicher nicht, aber
glücklich, weil man andere glücklich macht. Wie denkst du darüber?“
„Ich
denke, liebe Marianne, du bist nicht ganz bei Trost. Wie stellst du dir das
denn vor? Ich kann doch nicht mir nichts dir nichts alles aufgeben, was bisher
zu meinem Leben gehörte und hier ganz neu beginnen.“ Nach einem kurzen Zögern
fügte sie an: „Gut, ich habe keine Familie dort, nur ein paar wenige Freunde.
Aber du hast einen Mann. Was sagt der denn zu deinen Plänen?“
„Ach
der, der weiß davon gar nichts. Außerdem wollte ich zuerst mit dir sprechen.
Mein Mann hält mich doch sowieso nur für eine graue Maus mit allen typischen
Eigenschaften dieses Nagers: naschhaft, durch Leckenbissen bestechlich und
neugierig.“ Marianne lachte laut. „Er wohnt doch nur noch mit mir unter einem
Dach und wir ernähren uns sozusagen von denselben Vorräten.“
Helene
hörte Marianne aufmerksam zu. Nach einer glücklichen Ehe klang das nicht.
„Ach,
Lenchen, denk bitte ernsthaft darüber nach. Ich würde mir so sehr eine
Freundin, wie du es bist, an meiner Seite wünschen. Und wenn wir dann noch
gemeinsam etwas auf die Beine stellen könnten, wäre das einfach großartig.
Bitte, denk darüber nach! Versprichst du es mir?“
„Versprochen!“,
antwortete Helene, doch sie wusste in diesem Moment noch nicht, ob es ihr
wirklich gelingen würde, die Tür zum Gestern zu schließen, etwas völlig Neues
zu wagen und sich davon überraschen zu lassen, was das Leben ihr noch zu geben
bereit war.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017