Freitag, 10. November 2017

Der alte Hampelmann

Nelly ging traurig die Treppe, die zum Bodenraum führte, hinauf. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie war immer so glücklich gewesen in diesem Haus.
Sie betrat den Bodenraum. Es war ziemlich dunkel hier. Nelly betätigte den alten vergilbten Lichtschalter. Eine Glühbirne, die von der Decke herunterbaumelte, verbreitete ihr trübes Licht. Alles sah noch genau so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Lange war sie nicht mehr hier oben gewesen.
Ihr Blick fiel auf die alte   Truhe. Sie hatte einmal ihrer Oma gehört. Langsam ging sie dort hin und öffnete vorsichtig den Deckel. Es kam ihr vor, als würde sie den Geruch ihrer Kindheit wahrnehmen. Monika, ihre Puppe, lag dort. Sie trug noch die grüne Hose und den gesteiften Pulli, den ihre Mama einmal für Monika gestrickt hatte. „Dazu gab es doch auch noch einen Schal und eine Mütze“, ging es Nelly durch den Kopf. Sie nahm Monika aus der Truhe und schaute sie verweint an. Sie hatte vor vielen, vielen Jahren unter dem Tannenbaum gesessen. Schöne Erinnerungen verband sie mit ihrer Kindheit.
„Oh, nein“, ging es ihr durch den Kopf, „meinen Hampelmann, den gibt es auch noch.“ Ihre Mama hatte alles für sie aufbewahrt und liebevoll in diese Truhe gelegt. Jetzt war sie nicht mehr da, ihre Mutter. Gestern musste sie sich endgültig von ihr verabschieden, als sie allein an ihrem Grab gestanden hatte.
Der Hampelmann hing immer an ihrem Bettchen. Nelly zog an dem Faden, so wie sie es früher oft getan hatte, wenn sie nicht einschlafen konnte. Dann führte sie Zwiegespräche mit ihm. Sie zog an dem Faden und die Arme und Beine bewegten sich, genau wie damals.
„Heute“, dachte Nelly, „heute gibt es Menschen, für die bin ich nur der dumme Hampelmann“. Sie dachte dabei an Ralf, ihren Freund. Stets war sie für ihn da. Sie sorgte sich um ihn, führte den Haushalt, erledigte alle Einkäufe, hielt den Garten in Ordnung und natürlich seine Wäsche. Dabei arbeitete sie auch jeden Tag 8 Stunden. Er hatte selten Zeit für sie und gemeinsame Unternehmungen gab es auch kaum noch.
Sie dachte zurück an ihre Zeit im Kindergarten. Dort sangen sie ein Lied über den Hampelmann. Sie summte es leise und erinnerte sich daran, wie es war, als sie damals in der Mitte stehen durfte und alle Kinder die Bewegungen nachmachten, die sie vormachte.
Würde sie Ralf das je verzeihen können, dass er sie in dieser schweren Stunde des Abschieds von ihrer Mutter allein gelassen hatte? „Wie lange will ich mir das eigentlich noch gefallen lassen?“, fragte sie sich.
Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie musste sich klar darüber werden, was sie wollte. Sollte sie sich von Ralf trennen? Dann wäre sie ganz allein.
Nein, dass stimmte so auch nicht. Sie hatten Freunde. Doch die würden wahrscheinlich alle Kontakt zu Ralf halten und nicht zu ihr, denn die meisten waren seine Freunde. Ralf mochte Nellys Freunde nicht. Sie waren ihm zu einfach gestrickt.
Wie dumm war sie nur gewesen, den Kontakt zu ihrer besten Freundin aufzugeben, die früher in der Nachbarschaft ihres Elternhauses wohnte. Nelly wusste nicht, wo sie geblieben war und ob sie inzwischen geheiratet und vielleicht sogar Kinder bekommen hatte. Sie hatte ihre Mutter nie danach gefragt.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wenn sie so weiter machte wie bisher, dann bliebe sie auf der Strecke. Dann gäbe es nur noch Arbeit für sie. Aber das konnte doch nicht alles sein. Da musste doch noch etwas kommen.
Sie hätte gerne Kinder gehabt. Doch Ralf wollte keine Kinder. Sie waren ihm zu laut und sie machten das Haus schmutzig, hatte er einmal gesagt.
Es war ihr, als fiele eine dicke Nebelwand herunter, die bisher ihren Blick trübte. Wie um alles in der Welt hatte sie das alles nur die ganzen Jahre ausgehalten. Das war doch nicht mehr sie.
Sie nahm ihre Gliederpuppe, ging die Treppe hinunter in die Küche ihrer Mutter. Viel hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Das Haus hatte Charme. Hier und dort musste es modernisiert werden. Hatte sie das Geld dazu und den Mut, Ralf zu verlassen und hierher in das Haus ihrer Kindheit zu ziehen?
Sie würde sich eine neue Arbeitsstelle suchen müssen. Neue Freunde. Wollte sie – konnte sie das schaffen?
Nelly ging zum Küchenschrank. Sie entnahm ihm eine Filtertüte und Kaffeepulver und kochte Kaffee. Der würde ihr jetzt gut tun.
 Durch den Duft, der sich ausbreitete, wurde es richtig gemütlich.
Sie nahm einen Block und einen Stift zur Hand.
Dann schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch.
Sie notierte ihr Gehalt, ihre Ersparnisse und überschlug die Kosten, die eine Renovierung des kleinen Hauses mit sich bringen würde. Das müsste zu schaffen sein. Sie hatte ja auch noch einen kleinen Sparvertrag. Von dem Geld wollte sie sich irgendwann ein neues Auto kaufen. Doch das konnte warten. Sollte sie es wagen? Sollte sie einen Neustart wagen?
Es klingelte an der Tür. „Nanu“, dachte Nelly, „wer wird das sein?“ Sie ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig und sah in zwei blaue Augen, die ihr sehr bekannt waren.
„Hallo Nelly“, sagte die junge Frau, „erkennst du mich noch? Ich bin es, Lucy von nebenan.“
Natürlich hatte Nelly Lucy sofort erkannt, doch sie war so erstarrt, dass sie gar nicht reagieren konnte. Tränen stiegen auf und dann fiel sie Lucy in die Arme.
 „Wie schön, dich hier zu sehen“, sagte Nelly. „Ich freue mich. Komm doch herein.“
Gemeinsam gingen sie in die Küche. Nelly stellte Lucy einen Kaffeebecher hin und sie sprachen über ihre Kindheit und Lucy erzählte, dass sie sich vor einem Jahr von ihrem Partner getrennt habe und nun mit ihrem kleinen Sohn nebenan im Haus ihrer Eltern wohne. Sie waren sich noch so nah. Alles war so vertraut.
Nachdem Lucy gegangen war, wusste Nelly, was jetzt zu tun war.
Hoch erhobenen Hauptes verließ sie das Haus. Den Hampelmann nahm sie mit. Er saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und sollte sie daran erinnern dass sie niemals wieder für jemanden der dumme Hampelmann sein wollte.
Später würde sie das Gespräch mit Ralf suchen. Ihr war niemals so klar wie in diesem Moment, was sie wollte und wie es in ihrem Leben weitergehen sollte.

© Martina Pfannenschmidt, 2014