Nelly ging traurig die Treppe, die zum Bodenraum
führte, hinauf. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie war immer so
glücklich gewesen in diesem Haus.
Sie betrat den Bodenraum. Es war ziemlich dunkel
hier. Nelly betätigte den alten vergilbten Lichtschalter. Eine Glühbirne, die
von der Decke herunterbaumelte, verbreitete ihr trübes Licht. Alles sah noch
genau so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Lange war sie nicht mehr hier
oben gewesen.
Ihr Blick fiel auf die alte Truhe. Sie hatte einmal ihrer Oma gehört.
Langsam ging sie dort hin und öffnete vorsichtig den Deckel. Es kam ihr vor,
als würde sie den Geruch ihrer Kindheit wahrnehmen. Monika, ihre Puppe, lag
dort. Sie trug noch die grüne Hose und den gesteiften Pulli, den ihre Mama
einmal für Monika gestrickt hatte. „Dazu gab es doch auch noch einen Schal und
eine Mütze“, ging es Nelly durch den Kopf. Sie nahm Monika aus der Truhe und
schaute sie verweint an. Sie hatte vor vielen, vielen Jahren unter dem
Tannenbaum gesessen. Schöne Erinnerungen verband sie mit ihrer Kindheit.
„Oh, nein“, ging es ihr durch den Kopf, „meinen
Hampelmann, den gibt es auch noch.“ Ihre Mama hatte alles für sie aufbewahrt
und liebevoll in diese Truhe gelegt. Jetzt war sie nicht mehr da, ihre Mutter.
Gestern musste sie sich endgültig von ihr verabschieden, als sie allein an
ihrem Grab gestanden hatte.
Der Hampelmann hing immer an ihrem Bettchen. Nelly
zog an dem Faden, so wie sie es früher oft getan hatte, wenn sie nicht
einschlafen konnte. Dann führte sie Zwiegespräche mit ihm. Sie zog an dem Faden
und die Arme und Beine bewegten sich, genau wie damals.
„Heute“, dachte Nelly, „heute gibt es Menschen,
für die bin ich nur der dumme Hampelmann“. Sie dachte dabei an Ralf, ihren
Freund. Stets war sie für ihn da. Sie sorgte sich um ihn, führte den Haushalt,
erledigte alle Einkäufe, hielt den Garten in Ordnung und natürlich seine
Wäsche. Dabei arbeitete sie auch jeden Tag 8 Stunden. Er hatte selten Zeit für
sie und gemeinsame Unternehmungen gab es auch kaum noch.
Sie dachte zurück an ihre Zeit im Kindergarten.
Dort sangen sie ein Lied über den Hampelmann. Sie summte es leise und erinnerte
sich daran, wie es war, als sie damals in der Mitte stehen durfte und alle
Kinder die Bewegungen nachmachten, die sie vormachte.
Würde sie Ralf das je verzeihen können, dass er
sie in dieser schweren Stunde des Abschieds von ihrer Mutter allein gelassen
hatte? „Wie lange will ich mir das eigentlich noch gefallen lassen?“, fragte
sie sich.
Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie musste sich
klar darüber werden, was sie wollte. Sollte sie sich von Ralf trennen? Dann
wäre sie ganz allein.
Nein, dass stimmte so auch nicht. Sie hatten
Freunde. Doch die würden wahrscheinlich alle Kontakt zu Ralf halten und nicht
zu ihr, denn die meisten waren seine Freunde. Ralf mochte Nellys Freunde nicht.
Sie waren ihm zu einfach gestrickt.
Wie dumm war sie nur gewesen, den Kontakt zu ihrer
besten Freundin aufzugeben, die früher in der Nachbarschaft ihres Elternhauses
wohnte. Nelly wusste nicht, wo sie geblieben war und ob sie inzwischen geheiratet
und vielleicht sogar Kinder bekommen hatte. Sie hatte ihre Mutter nie danach
gefragt.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wenn sie so
weiter machte wie bisher, dann bliebe sie auf der Strecke. Dann gäbe es nur
noch Arbeit für sie. Aber das konnte doch nicht alles sein. Da musste doch noch
etwas kommen.
Sie hätte gerne Kinder gehabt. Doch Ralf wollte
keine Kinder. Sie waren ihm zu laut und sie machten das Haus schmutzig, hatte
er einmal gesagt.
Es war ihr, als fiele eine dicke Nebelwand
herunter, die bisher ihren Blick trübte. Wie um alles in der Welt hatte sie das
alles nur die ganzen Jahre ausgehalten. Das war doch nicht mehr sie.
Sie nahm ihre Gliederpuppe, ging die Treppe
hinunter in die Küche ihrer Mutter. Viel hatte sich in all den Jahren nicht verändert.
Das Haus hatte Charme. Hier und dort musste es modernisiert werden. Hatte sie
das Geld dazu und den Mut, Ralf zu verlassen und hierher in das Haus ihrer
Kindheit zu ziehen?
Sie würde sich eine neue Arbeitsstelle suchen
müssen. Neue Freunde. Wollte sie – konnte sie das schaffen?
Nelly ging zum Küchenschrank. Sie entnahm ihm eine
Filtertüte und Kaffeepulver und kochte Kaffee. Der würde ihr jetzt gut tun.
Durch den
Duft, der sich ausbreitete, wurde es richtig gemütlich.
Sie nahm einen Block und einen Stift zur Hand.
Dann schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein und
setzte sich an den Küchentisch.
Sie notierte ihr Gehalt, ihre Ersparnisse und
überschlug die Kosten, die eine Renovierung des kleinen Hauses mit sich bringen
würde. Das müsste zu schaffen sein. Sie hatte ja auch noch einen kleinen
Sparvertrag. Von dem Geld wollte sie sich irgendwann ein neues Auto kaufen.
Doch das konnte warten. Sollte sie es wagen? Sollte sie einen Neustart wagen?
Es klingelte an der Tür. „Nanu“, dachte Nelly,
„wer wird das sein?“ Sie ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig und sah in zwei
blaue Augen, die ihr sehr bekannt waren.
„Hallo Nelly“, sagte die junge Frau, „erkennst du
mich noch? Ich bin es, Lucy von nebenan.“
Natürlich hatte Nelly Lucy sofort erkannt, doch
sie war so erstarrt, dass sie gar nicht reagieren konnte. Tränen stiegen auf
und dann fiel sie Lucy in die Arme.
„Wie schön,
dich hier zu sehen“, sagte Nelly. „Ich freue mich. Komm doch herein.“
Gemeinsam gingen sie in die Küche. Nelly stellte
Lucy einen Kaffeebecher hin und sie sprachen über ihre Kindheit und Lucy
erzählte, dass sie sich vor einem Jahr von ihrem Partner getrennt habe und nun
mit ihrem kleinen Sohn nebenan im Haus ihrer Eltern wohne. Sie waren sich noch
so nah. Alles war so vertraut.
Nachdem Lucy gegangen war, wusste Nelly, was jetzt
zu tun war.
Hoch erhobenen Hauptes verließ sie das Haus. Den
Hampelmann nahm sie mit. Er saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und sollte sie
daran erinnern dass sie niemals wieder für jemanden der dumme Hampelmann sein
wollte.
Später würde sie das Gespräch mit Ralf suchen. Ihr
war niemals so klar wie in diesem Moment, was sie wollte und wie es in ihrem
Leben weitergehen sollte.
© Martina
Pfannenschmidt, 2014