Freitag, 10. November 2017

Das Leben lieben

Margot setzte sich für einen Moment auf die Bank im Park und genoss die ersten warmen Strahlen der morgendlichen Herbstsonne. Früher, als sie noch gearbeitet hatte, nahm sie sich im Herbst oft ein paar freie Tage. Sie liebte diese Jahreszeit mit ihren berauschenden Farben. Herrlich waren die Tage, die man ‚Altweibersommer’ nannte.
Wann immer sie sich müde und ausgelaugt fühlte, zog es sie hinaus in die Natur. Dort fand sie das, was ihr gut tat. Manchmal stellte sie sich an einen dicken Baum, um seine Energie zu spüren und ein kleines bisschen davon für sich abzuzwacken. Natürlich tat sie dies nicht, ohne sich bei ihm dafür zu bedanken.
Jetzt saß sie auf dieser Bank am Weiher, genoss die Stille und beobachtete die wenige Menschen, die sich wie sie hier am frühen Morgen aufhielten.
Ein junger Mann ging an ihr vorüber. Über einer Schulter trug er einen schwarzen Rucksack. Bestimmt war er auf dem Weg zur Schule. Margot schmunzelte. Obwohl der Jugendliche noch sehr verschlafen wirkte, reichte seine Energie schon aus, um auf dem Handy eine Nachricht zu schreiben.
Es lag noch nicht einmal 60 Jahre zurück, da trugen die Schüler einen Ranzen aus Leder auf ihrem Rücken und darin befand sich eine Tafel aus Schiefer mit einem Schwämmchen daran, das oft aus dem Ranzen heraus baumelte. Und heute?
Manchmal dachte Margot etwas wehmütig an die Zeit ihrer Kindheit zurück – aber wirklich nur manchmal. Eigentlich lebte sie voll und ganz im Hier und Jetzt. Sie war zufrieden mit ihrem Leben und hatte schon lange für sich erkannt, dass es unnütz war, ständig an die Vergangenheit zu denken. Es brachte auch nichts, sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Nur der Augenblick zählte und den versuchte sie stets mit Leben zu füllen. Zu Leben, das bedeutete für sie nicht, von einem Tag zum anderen durch sein Leben zu rennen, sondern jeden Moment bewusst wahr zu nehmen und zu genießen. Immer wollte ihr das wahrlich nicht gelingen, doch sie versuchte es.
Ihr Weg war zeitweilig schmerzhaft gewesen, bis sie zu der Erkenntnis gekommen war, dass jeder Mensch genau an dem für ihn richtigen Platz stand. Sie war ebenso sicher, dass jeder zu jeder Zeit am richtigen Ort war – auch wenn es manchmal nicht den Anschein hatte, als sei es so. Sie war viel ruhiger und ausgeglichener geworden, seitdem sie erkannt hatte, dass alles, war geschah, richtig war. Sie vertraute einfach darauf, dass alles einen Sinn hatte. Krankheiten waren in Margots Augen dazu da, den Menschen zu stoppen, ihm Einhalt zu gebieten. Durch sie bekam man vom Leben die Gelegenheit, einmal genauer hin zu schauen. Entsprach das eigene Leben noch dem, was man sich wirklich wünschte? Es waren genau diese schweren Zeiten, die sie hatten wachsen und reifen lassen.
Margot war froh und dankbar, Menschen an ihrer Seite zu haben, die ihr zur Seite standen und die sie genau so sein ließen, wie sie war. Von vielen anderen so genannten Freunden hatte sie sich verabschiedet, als sie begonnen hatte, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Sie hatte sich nicht nur von Dingen, sondern auch von bestimmten Situationen und eben auch Menschen getrennt. Manchmal war dies schmerzhaft gewesen, aber unumgänglich, um auf dem eigenen Weg Fortschritte zu machen. Heute war sie ein wirklich glücklicher Mensch und viele neue liebenswerte Menschen hatten ihren Weg gekreuzt und waren zu wahren Freunden geworden.
Sie erhob sich, ging wie ein kleines Mädchen mit schlurfendem Schritt durch die dicken Laubberge, die sich allerorten gebildet hatten, um beim Bäcker frische Brötchen für sich und ihren neuen Lebenspartner zu holen. Er war vor ein paar Monaten plötzlich in ihr Leben gepurzelt. Nun wartete er zu Hause mit frisch gebrühtem Kaffee auf sie.


© Martina Pfannenschmidt, 2015