Freitag, 10. November 2017

50. Geburtstag

Selbstvergessen saß Ines auf der Terrasse des Ferienhauses. So hatte sie sich das eigentlich nicht gedacht. Als sie dieses Haus mietete, plante sie noch, ihre Familie mitzunehmen und ihren 50. Geburtstag mit allen hier in dieser Abgeschiedenheit zu feiern. Doch es war anders gekommen. Wie so oft! Jetzt war sie alleine hier.
Frank, ihr Angetrauter, war selbstständig und das nahm er wirklich wörtlich. Selbst und ständig war er in seiner Firma tätig, hatte wenig Zeit für sie und seine Familie. Ines war nicht unglücklich, das wäre ungerecht, es zu sagen, doch glücklich war sie auch nicht. Sie hatte sich mit diesem Leben abgefunden, irgendwie arrangiert.
Früher, vor der Geburt ihrer beiden Kinder, war sie auch im Geschäft tätig gewesen. Danach blieb sie wie selbstverständlich zu Hause. Jetzt hatten beide Kinder inzwischen ihr eigenes Leben und ihre eigene Wohnung. Ines war oft einsam. Doch sie war keine Stütze mehr für ihren Mann im Geschäft. Zumindest glaubte sie das. Dafür war sie viel zu lange raus aus dem Betrieb. Außerdem fiel ihr die Arbeit am PC schwer.
Nun stand dieser blöde runde Geburtstag an. 50! War sie nun alt oder noch jung? Alt fühlte sie sich nicht, doch war sie noch jung genug, um etwas Neues zu beginnen? Wer weiß, ging es ihr durch den Kopf, vielleicht beneiden mich andere sogar um meine freie Zeit. Doch mich erfüllt dieses Leben nicht.
Als sie dieses Ferienhaus hoch oben in Dänemark in einem Prospekt gesehen hatte, war sie Feuer und Flamme gewesen. Im Reisebüro hatte man ihr versichert, dass es eines der schönsten Häuser dieses Anbieters sei und so war es auch. Es gab ein Schwimmbad im Haus und einen Pool draußen und natürlich eine kleine Sauna und sage und schreibe 8 Schlafzimmer und mehrere Bäder. Ines schmunzelte. Wenn sie wollte, konnte sie jetzt in jeder Nacht in einem anderen Bett schlafen. Doch irgendwie war ihr nicht zum Lachen zumute. Ganz alleine würde sie ihren Geburtstag in einem fremden Land feiern.
Ines schaute auf die Uhr – es war eigentlich noch zu früh, um schlafen zu gehen, doch irgendwie war sie schlafbedürftig. Die lange Fahrt hatte sie angestrengt. Sie würde erst morgen ihren Koffer auspacken, entschied sie. Jetzt wollte sie nur schlafen! Hundemüde fiel sie auf eines der vielen Betten und schlief bald darauf ein.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne am wolkenlosen blauen Himmel. Ein herrlicher Tag, wie es hoffentlich noch viele in diesem Sommer geben würde, lag vor ihr. Gut gelaunt sprang Ines aus dem Bett und entkleidete sich, während sie nach draußen in den Garten lief. Sie war ganz alleine hier – weit und breit keine Menschenseele. Splitternackt sprang sie in den Pool. Es war herrlich! Heiter und erfrischt entstieg sie dem kühlen Nass. Sie bemerkte, dass sie hungrig und durstig war. Es lag auch schon eine ganze Zeit zurück, dass sie etwas gegessen hatte. Notdürftig trocknete sie sich ab, schlüpfte in ihr mit kleinen Rosen übersätes Sommerkleid und in ihre weißen Sandalen, kämmte schnell durch ihr nasses Haar, griff sich das Fahrrad, das im Schuppen stand und radelte los. Das sie ungeschminkt war und ihr Haar noch nass, störte sie in diesem Moment überhaupt nicht. Die Sonne würde es schon trocknen, während sie sich auf dem Weg zum Bäcker befand.
Rasant bog sie um die Hausecke, als sie einem Mann, der ihr plötzlich auf dem Kiesweg entgegen kam, ausweichen musste. Dabei kam sie ins Schlittern und landete unsanft auf dem Boden. Autsch, das tat ganz schön weh. Ihr linkes Knie war aufgeschlagen und auch der Oberschenkel zeigte einige Schürfwunden.
„Es tut mir so leid!“, sagte der Mann, der offensichtlich Däne war, jedoch ein wirklich gutes Deutsch sprach. „Haben sie starke Schmerzen?“
„Geht so“, antwortete Ines und nahm die Hand, die der Mann ihr anbot, um wieder auf die Füße zu kommen.
„Es tut mit wirklich leid“, wiederholte er.
„Das sagten sie bereits“, erwiderte Ines ein wenig schroff, obwohl man ihm ja nicht alleine die Schuld an diesem Dilemma geben konnte.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, meinte der Däne und stützte Ines, die sich humpelnd Richtung Haustür bewegte. 
„Haben sie Verbandszeug in Ihrem Auto?“, erkundigte er sich. Ines nickte, angelte die Schlüssel vom Schränkchen und reichte sie ihm. „Im Kofferraum“, sagte sie nur.
Der Mann versorgte die Wunden, während Ines die Zähne zusammen biss. Es schmerzte ganz schön, doch sie wollte vor dem Fremden auch nicht wie eine Memme wirken. Anschließend saßen sie gemeinsam auf dem Sofa. Es war irgendwie eine bedrückende Situation. Ines wurde von einer Minute auf die andere bewusst, dass gar niemand wusste, wo sie zu finden war. Sie war einfach so gegangen, hatte sogar demonstrativ ihr Handy auf den Küchentisch gelegt. Sie wollte wirklich für niemanden erreichbar sein. Was aber, wenn dieser Mann ein Mörder war und sie hier im Garten vergrub. Niemand würde sie jemals finden. - Er schien ihre Gedanken zu erraten.
„Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Johannsen. Johann Johannsen. Ich bin der Eigentümer dieses Hauses und wollte schauen, ob alles in Ordnung ist und sie zufrieden sind oder ob ich etwas für sie tun kann.“
Ines war erleichtert. „Wenn Sie mich so fragen“, meinte sie, „ich habe einen Bärenhunger und Durst, aber nichts im Haus.“
„Geben Sie mir 10 Minuten, dann steht ein super Frühstück vor Ihnen“, versprach er und verschwand.
Eine kurze Zeit später saßen sie gemeinsam auf der Terrasse und Ines genoss ein herrliches Frühstück.
„Es geht mich zwar nichts an“, begann Herr Johannsen, „doch darf ich Sie fragen, warum sie als Einzelperson ein so großes Haus mieten?“
„Sie dürfen“, antwortete Ines und ohne weiter darüber nachzudenken, erzählte sie ihm ihre Geschichte, die er aufmerksam verfolgte.
„Das ist nicht wahr!“ Er war geradezu entsetzt. „Sie wollen mutterseelenallein ihren Geburtstag feiern und dann noch ihren 50.?! Das kann ich nicht zulassen.“
„Ich habe mich entschlossen, diesen Tag alleine zu verbringen, um mir klar darüber zu werden, wie mein Leben jetzt weitergehen soll. So wie es im Moment ist, soll es nicht bleiben. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Erlauben Sie mir wenigstens, Sie morgen Abend zum Essen einzuladen?! Als Wiedergutmachung sozusagen. Ich hole sie so gegen 19 Uhr ab. Es gibt ein ganz hervorragendes Lokal im Nachbarort.“
Ines musste nicht lange überlegen. Sie nahm die nette Einladung an.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, fiel ein warmer Regen vom Himmel. Schon oft wollte sie draußen im Regen tanzen. Bisher hatte sie diesem Gefühl jedoch immer widerstanden. Aber jetzt nicht. Mit weit ausgebreiteten Armen stand sie mitten im Garten und genoss diesen Regenschauer. Sie war jetzt 50! Na und! Sie würde einen Computerkurs belegen und neu im Betrieb ihres Mannes beginnen. So könnte sie ihm auch tagsüber nahe sein und sie würde dafür sorgen, dass er pünktlich Feierabend machte und gemeinsam mit ihr die Abende verbrachte. Die Lösung war so einfach, warum war sie in Deutschland nicht schon darauf genommen? Manchmal brauchte man wohl einfach nur Abstand und einen anderen Blickwinkel.
Ines lauschte. Da waren Geräusche. Es war ihr etwas mulmig zumute, als sie Richtung Kiesweg ging. Sie konnte kaum glauben, was sie sah: Frank und ihre Kinder winkten ihr zu: „Überraschung!“, riefen sie.
„Wo kommt ihr denn her?“, fragte Ines geistreich.
„Aus Deutschland, meine Liebe“, scherzte Frank, nahm sie in den Arm und küsste sie. „Alles Liebe zum 50. mein Schatz. Ich habe begriffen, was du mir mit dieser Aktion sagen wolltest und schwöre hoch und heilig, dass wir etwas ändern werden.
„Das werden wir“, bestätigte Ines und nahm voller Freude die Glückwünsche ihrer Kinder entgegen. „Aber woher wusstet ihr …?“
„Herr Johannsen, der Vermieter, hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um uns zu finden … und nun sind wir hier und wir bleiben ein paar Tage, so wie du es dir gewünscht hast.“
Ines konnte ihr Glück kaum fassen.


© Martina Pfannenschmidt, 2015