Selbstvergessen
saß Ines auf der Terrasse des Ferienhauses. So hatte sie sich das eigentlich
nicht gedacht. Als sie dieses Haus mietete, plante sie noch, ihre Familie
mitzunehmen und ihren 50. Geburtstag mit allen hier in dieser Abgeschiedenheit zu
feiern. Doch es war anders gekommen. Wie so oft! Jetzt war sie alleine hier.
Frank,
ihr Angetrauter, war selbstständig und das nahm er wirklich wörtlich. Selbst und
ständig war er in seiner Firma tätig, hatte wenig Zeit für sie und seine
Familie. Ines war nicht unglücklich, das wäre ungerecht, es zu sagen, doch
glücklich war sie auch nicht. Sie hatte sich mit diesem Leben abgefunden,
irgendwie arrangiert.
Früher,
vor der Geburt ihrer beiden Kinder, war sie auch im Geschäft tätig gewesen. Danach
blieb sie wie selbstverständlich zu Hause. Jetzt hatten beide Kinder inzwischen
ihr eigenes Leben und ihre eigene Wohnung. Ines war oft einsam. Doch sie war
keine Stütze mehr für ihren Mann im Geschäft. Zumindest glaubte sie das. Dafür
war sie viel zu lange raus aus dem Betrieb. Außerdem fiel ihr die Arbeit am PC
schwer.
Nun
stand dieser blöde runde Geburtstag an. 50! War sie nun alt oder noch jung? Alt
fühlte sie sich nicht, doch war sie noch jung genug, um etwas Neues zu beginnen?
Wer weiß, ging es ihr durch den Kopf, vielleicht beneiden mich andere sogar um
meine freie Zeit. Doch mich erfüllt dieses Leben nicht.
Als
sie dieses Ferienhaus hoch oben in Dänemark in einem Prospekt gesehen hatte,
war sie Feuer und Flamme gewesen. Im Reisebüro hatte man ihr versichert, dass
es eines der schönsten Häuser dieses Anbieters sei und so war es auch. Es gab
ein Schwimmbad im Haus und einen Pool draußen und natürlich eine kleine Sauna und
sage und schreibe 8 Schlafzimmer und mehrere Bäder. Ines schmunzelte. Wenn sie
wollte, konnte sie jetzt in jeder Nacht in einem anderen Bett schlafen. Doch irgendwie
war ihr nicht zum Lachen zumute. Ganz alleine würde sie ihren Geburtstag in
einem fremden Land feiern.
Ines
schaute auf die Uhr – es war eigentlich noch zu früh, um schlafen zu gehen,
doch irgendwie war sie schlafbedürftig. Die lange Fahrt hatte sie angestrengt.
Sie würde erst morgen ihren Koffer auspacken, entschied sie. Jetzt wollte sie
nur schlafen! Hundemüde fiel sie auf eines der vielen Betten und schlief bald
darauf ein.
Als
sie am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne am wolkenlosen blauen Himmel.
Ein herrlicher Tag, wie es hoffentlich noch viele in diesem Sommer geben würde,
lag vor ihr. Gut gelaunt sprang Ines aus dem Bett und entkleidete sich, während
sie nach draußen in den Garten lief. Sie war ganz alleine hier – weit und breit
keine Menschenseele. Splitternackt sprang sie in den Pool. Es war herrlich! Heiter
und erfrischt entstieg sie dem kühlen Nass. Sie bemerkte, dass sie hungrig und
durstig war. Es lag auch schon eine ganze Zeit zurück, dass sie etwas gegessen
hatte. Notdürftig trocknete sie sich ab, schlüpfte in ihr mit kleinen Rosen übersätes
Sommerkleid und in ihre weißen Sandalen, kämmte schnell durch ihr nasses Haar,
griff sich das Fahrrad, das im Schuppen stand und radelte los. Das sie
ungeschminkt war und ihr Haar noch nass, störte sie in diesem Moment überhaupt
nicht. Die Sonne würde es schon trocknen, während sie sich auf dem Weg zum
Bäcker befand.
Rasant
bog sie um die Hausecke, als sie einem Mann, der ihr plötzlich auf dem Kiesweg
entgegen kam, ausweichen musste. Dabei kam sie ins Schlittern und landete
unsanft auf dem Boden. Autsch, das tat ganz schön weh. Ihr linkes Knie war
aufgeschlagen und auch der Oberschenkel zeigte einige Schürfwunden.
„Es
tut mir so leid!“, sagte der Mann, der offensichtlich Däne war, jedoch ein
wirklich gutes Deutsch sprach. „Haben sie starke Schmerzen?“
„Geht
so“, antwortete Ines und nahm die Hand, die der Mann ihr anbot, um wieder auf
die Füße zu kommen.
„Es
tut mit wirklich leid“, wiederholte er.
„Das
sagten sie bereits“, erwiderte Ines ein wenig schroff, obwohl man ihm ja nicht
alleine die Schuld an diesem Dilemma geben konnte.
„Kommen
Sie, ich helfe Ihnen“, meinte der Däne und stützte Ines, die sich humpelnd
Richtung Haustür bewegte.
„Haben
sie Verbandszeug in Ihrem Auto?“, erkundigte er sich. Ines nickte, angelte die
Schlüssel vom Schränkchen und reichte sie ihm. „Im Kofferraum“, sagte sie nur.
Der
Mann versorgte die Wunden, während Ines die Zähne zusammen biss. Es schmerzte
ganz schön, doch sie wollte vor dem Fremden auch nicht wie eine Memme wirken. Anschließend
saßen sie gemeinsam auf dem Sofa. Es war irgendwie eine bedrückende Situation.
Ines wurde von einer Minute auf die andere bewusst, dass gar niemand wusste, wo
sie zu finden war. Sie war einfach so gegangen, hatte sogar demonstrativ ihr
Handy auf den Küchentisch gelegt. Sie wollte wirklich für niemanden erreichbar
sein. Was aber, wenn dieser Mann ein Mörder war und sie hier im Garten vergrub.
Niemand würde sie jemals finden. - Er schien ihre Gedanken zu erraten.
„Entschuldigen
Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Johannsen.
Johann Johannsen. Ich bin der Eigentümer dieses Hauses und wollte schauen, ob
alles in Ordnung ist und sie zufrieden sind oder ob ich etwas für sie tun kann.“
Ines
war erleichtert. „Wenn Sie mich so fragen“, meinte sie, „ich habe einen
Bärenhunger und Durst, aber nichts im Haus.“
„Geben
Sie mir 10 Minuten, dann steht ein super Frühstück vor Ihnen“, versprach er und
verschwand.
Eine
kurze Zeit später saßen sie gemeinsam auf der Terrasse und Ines genoss ein
herrliches Frühstück.
„Es
geht mich zwar nichts an“, begann Herr Johannsen, „doch darf ich Sie fragen,
warum sie als Einzelperson ein so großes Haus mieten?“
„Sie
dürfen“, antwortete Ines und ohne weiter darüber nachzudenken, erzählte sie ihm
ihre Geschichte, die er aufmerksam verfolgte.
„Das
ist nicht wahr!“ Er war geradezu entsetzt. „Sie wollen mutterseelenallein ihren
Geburtstag feiern und dann noch ihren 50.?! Das kann ich nicht zulassen.“
„Ich
habe mich entschlossen, diesen Tag alleine zu verbringen, um mir klar darüber
zu werden, wie mein Leben jetzt weitergehen soll. So wie es im Moment ist, soll
es nicht bleiben. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Erlauben
Sie mir wenigstens, Sie morgen Abend zum Essen einzuladen?! Als
Wiedergutmachung sozusagen. Ich hole sie so gegen 19 Uhr ab. Es gibt ein ganz
hervorragendes Lokal im Nachbarort.“
Ines
musste nicht lange überlegen. Sie nahm die nette Einladung an.
Als
sie am nächsten Morgen erwachte, fiel ein warmer Regen vom Himmel. Schon oft wollte
sie draußen im Regen tanzen. Bisher hatte sie diesem Gefühl jedoch immer
widerstanden. Aber jetzt nicht. Mit weit ausgebreiteten Armen stand sie mitten
im Garten und genoss diesen Regenschauer. Sie war jetzt 50! Na und! Sie würde
einen Computerkurs belegen und neu im Betrieb ihres Mannes beginnen. So könnte
sie ihm auch tagsüber nahe sein und sie würde dafür sorgen, dass er pünktlich
Feierabend machte und gemeinsam mit ihr die Abende verbrachte. Die Lösung war
so einfach, warum war sie in Deutschland nicht schon darauf genommen? Manchmal
brauchte man wohl einfach nur Abstand und einen anderen Blickwinkel.
Ines
lauschte. Da waren Geräusche. Es war ihr etwas mulmig zumute, als sie Richtung
Kiesweg ging. Sie konnte kaum glauben, was sie sah: Frank und ihre Kinder
winkten ihr zu: „Überraschung!“, riefen sie.
„Wo
kommt ihr denn her?“, fragte Ines geistreich.
„Aus
Deutschland, meine Liebe“, scherzte Frank, nahm sie in den Arm und küsste sie.
„Alles Liebe zum 50. mein Schatz. Ich habe begriffen, was du mir mit dieser
Aktion sagen wolltest und schwöre hoch und heilig, dass wir etwas ändern
werden.
„Das
werden wir“, bestätigte Ines und nahm voller Freude die Glückwünsche ihrer
Kinder entgegen. „Aber woher wusstet ihr …?“
„Herr
Johannsen, der Vermieter, hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um uns zu finden
… und nun sind wir hier und wir bleiben ein paar Tage, so wie du es dir
gewünscht hast.“
Ines
konnte ihr Glück kaum fassen.
©
Martina Pfannenschmidt, 2015