Montag, 11. Juni 2018

Nadel im Heuhaufen



Wie gerne hätte Mirja jetzt den Hörer auf die Gabel geknallt, aber leider geht das ja in heutiger Zeit nicht mehr. Ihre Mutter ging ihr mit ihren ewigen Schuldzuweisungen gehörig auf die Nerven. Immer waren es die anderen, die an einer misslichen Situation die Schuld trugen. Niemals lag es an ihrer Mutter! Niemals!

Mirja trat auf den Balkon hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Vielleicht half ihr das, wieder herunter zu kommen. Eigentlich wollte sie sich ja nicht mehr darüber aufregen. Eigentlich!

Als sie den ersten Zug inhaliert hatte, hörte sie zwei kleine Mädchen, die offenbar in Streit geraten waren.

„Du bist Schuld!“

„Nein, bin ich gar nicht!“

„Doch, weil du mir meine Sachen aus der Hand reißen wolltest, sind sie mir herunter gefallen.“

„Gar nicht. Ich wollte dir nur beim Zusammenbauen helfen.“

Doch dieses Argument verhallte und erneut kam die Beschuldigung: „Das ist alles deine Schuld!“

„Das gibt es doch nicht“, sagte Mirja zu sich selbst.

Dieses System der Schuldzuweisung klappt sogar schon bei Kindern. Aber so ist es wohl, wenn die Erwachsenen nicht vorleben, dass man die Schuld lieber bei sich selbst suchen sollte.

Mirja lebte alleine in einer kleinen Wohnung direkt über dem Friseursalon, in dem sie arbeitete. Das war ein großes Glück für sie. Erstens liebte sie ihren Beruf und zweitens war sie ein aufgeschlossener Mensch, der sich gerne mit anderen unterhielt.

Gerade jetzt in den Sommermonaten kamen viele Urlauber in den Salon und so freute sie sich, fremde Menschen durch Gespräche näher kennen zu lernen. Es war keine Neugier ihrerseits, sondern echtes Interesse an den Lebensgeschichten der anderen. Auch wenn sich viele Lebensmodelle ähneln, so ist doch jedes Leben einzigartig und genau das ist es, was sie daran fasziniert.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihre Pause beendet war. Mirja drückte ihre Zigarette aus und lief hinunter in den Salon.

„Gut, dass du kommst“, wurde sie sogleich von ihrer Chefin begrüßt. „Deine Kundin wartet schon seit einer Viertelstunde auf dich.“

Mirja blickte erneut auf ihre Armbanduhr: „Aber …“.

„Ja, ich weiß. Du bist pünktlich. Die ältere Dame dort hinten war viel zu früh dran.“

Dabei zwinkerte die Chefin ihr zu. Das kannten sie schon. Während jüngere Kundinnen gerne etwas später eintrafen, kamen ältere oft vor der Zeit.

„Guten Tag, mein Name ist Mirja“, begrüßte sie die Kundin freundlich. „Was darf ich für Sie tun?“

Die ältere Dame blickte sie mit warmen Augen an: „Sie dürfen mich hübsch machen“, erwiderte sie und strahlte, als sie fortfuhr, „für einen ganz besonderen Anlass.“

„Oh, das klingt ja spannend. Vielleicht mögen Sie mir ein bisschen erzählen, während ich versuche, ihren Wunsch zu erfüllen.“

„Wir feiern heute unsere Goldene Hochzeit und mein Mann will mich heute Abend groß ausführen", erzählte die Kundin bereitwillig.

„Herzlichen Glückwunsch! Das ist aber wirklich ein Grund, sich fein zu machen.“

„Nicht wahr! 50 Jahre! Ich kann es gar nicht glauben. Wissen Sie, wir haben damals unsere Hochzeitsreise hierher gemacht. Seither kommen wir immer mal wieder hier auf diese bezaubernde Insel. Leben Sie hier?“, erkundigte sich die Dame interessiert.

„Ja, ich kam, wie Sie, als Urlauberin her und bin dann wegen der Liebe geblieben.“

„Vielleicht erleben Sie ja auch eines Tages ihre Goldene Hochzeit.“

Mirja lachte auf: „Eher nicht. Die Liebe ging – aber ich blieb.“

„Oh je! Aber ich kann gut verstehen, dass sie blieben. Doch ich kann mir denken, dass es in den Wintermonaten ziemlich einsam ist, oder nicht?“

„Ach wissen Sie“, erwiderte Mirja, „vielleicht ist es gerade dieser Kontrast zwischen der quirligen Sommer- und der ruhigen Winterzeit, die mich hier hält.“

Die Kundin schwieg daraufhin eine Weile. Als sich bald darauf ihre Blicke im Spiegel trafen, hatte Mirja den Eindruck, als sei ein Anflug von Traurigkeit in den Augen der Kundin erkennbar.

Mirja täuschte sich nicht.

„Wir führen eine wirklich harmonische Ehe“, begann die Dame daraufhin zu erzählen, „doch es gibt da etwas, das kann ich mir bis heute nicht verzeihen.“

„Oh nein, bitte nicht“, dachte Mirja in diesem Augenblick. „Bitte keine Lebensbeichte dieser Form. Soviel Privates möchte ich dann doch nicht hören.“

Es kam jedoch ganz anders, als erwartet.

„Ich habe Ihnen ja vorhin schon erzählt, dass uns unsere Hochzeitsreise hierher führte. Wir waren zu der Zeit nicht nur sehr verliebt, sondern auch sehr sportlich. Ich weiß bis heute nicht, wann und wie es passiert ist, doch ich habe meinen Ehering damals verloren. So kurz nach der Hochzeit. Das kann ich mir einfach nicht verzeihen.“

Die Kundin drehte dabei einen Ring an ihrem Finger. „Wir haben lange im Sand gesucht. Doch das ist ja so, als würde man eine Nadel im Heuhaufen suchen.“

„Vielleicht sogar noch etwas schwieriger“, entgegnete Mirja mitfühlend.

„Wir haben ihn nicht gefunden, sondern einen anderen gekauft, aber es ist halt nicht der, den mir mein Mann bei der Trauung angesteckt hat“, erzählte die Frau traurig, während sie auf ihre Hand schaute.

Mirja nickte verständnisvoll.

„Sie werden es nicht glauben“, fuhr die Kundin schmunzelnd fort, „aber wir suchen ihn immer noch. Jedes Mal, wenn wir hier Urlaub machen, hoffen wir, dass wir ihn doch noch finden.“

Mirja lächelte der Dame zu, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Dass es sich dabei um ein aussichtsloses Unterfangen handelte, wusste die Kundin sicher auch.

Als die ältere Dame den Salon einige Zeit später frisch frisiert verlassen wollte, stürmte eine junge Frau hinein. Sie war völlig außer Atem, als sie die Kundin ansprach: „Wie gut, dass Sie noch da sind! Ich wurde vorhin ungewollt Zeugin ihres Gespräches. Wissen Sie, es ist mein Hobby, in den Wintermonaten den Strand mit einem Detektor abzusuchen. Und so habe ich schon manchen Schatz gefunden. Schauen Sie doch bitte mal, vielleicht ist ja Ihr Ehering dabei.“

Während sie das sagte, öffnete sie eine alte Keksdose.

Die ältere Dame sah die junge Frau an. Als sie anschließend in die kleine Schatzkiste schaute, griff sie zielsicher hinein. Völlig fassungslos hielt sie ihren Ehering in Händen! Nach 50 Jahren!

 

© Martina Pfannenschmidt, 2018