Donnerstag, 14. Juni 2018

‚Da brat mir doch einer ′nen Storch’


Nach einem langen und Kräfte zehrenden Flug kam Spotty völlig ausgemergelt und hungrig in seinem Heimatort an - und dann das!
Schon von weitem sah er, dass es sich irgendein Hallodri in seinem Nest gemütlich gemacht hatte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Dem Kerl würde er die Leviten lesen und wenn es sein müsste, ihn mit kräftigen Hieben seines Schnabels vertreiben. Genau so und nicht anders galt es, mit Hausbesetzern umzugehen.
Als er näher kam, hätte ihn fast der Schlag getroffen. Den Kerl, der dort in seinem Nest hockte und ihm spöttisch entgegen blickte, kannte er nur zu gut. Das war eindeutig Eddie, dieser Nichtsnutz. Hatte der denn immer noch nicht genug?
Schon in Afrika hatten sie sich heftige Duelle geliefert, als sie um Stella, die hübscheste aller Storchenmädchen, gebuhlt hatten. Doch ER war als Sieger vom Platz gegangen und nicht Eddie.
Schon in ein paar Tagen würde Stella nachkommen. So hatten sie es vereinbart. Bis dahin wollte Spotty sich nicht nur satt essen und zu Kräften kommen, sondern nebenher auch das Nest renovieren.
Noch ein paar kräftige Flügelschläge, dann landete er zielsicher auf seinem Horst.
„Hallo, mein Freund, auch schon da?“, fragte Eddie provozierend und grinste dabei breit.  
Das brachte Spotty noch mehr in Rage und gegen seinen Nebenbuhler auf: „Von wegen Freund. Hau bloß ab! Dies ist mein Nest und nicht deins. Also: Zieh Leine und zwar schnell!“
Doch so einfach ließ sich der Störenfried nicht vertreiben. Es kam wieder einmal zu einem heftigen Duell und Spotty war wirklich am Ende seiner Kräfte, als Eddie ziemlich lädiert resignierte und sich davon machte. Erschöpft aber glücklich fiel der Sieger bald darauf in einen tiefen und erholsamen Schlaf.
Als Stella eine Woche später im Anflug war, waren all die Schmerzen und Entbehrungen der letzten Zeit vergessen. Stolz präsentierte Spotty seiner Liebsten das liebevoll hergerichtete Nest. Dann flogen sie auf die nahe gelegene Wiese und labten sich an all den Leckereien, die ihnen dort wie auf einem gedeckten Tisch serviert wurden.
Als sich Stella wieder frisch und erholt fühlte, begannen sie mit ihrem Hochzeitstanz und klapperten mit ihren Schnäbeln, dass es eine wahre Freude war.
„Schau nur!“ Stolz erhob sich Stella und gab für ihren Liebsten den Blick auf 5 Eier frei, die wie riesige Perlen im Nest lagen.
Spotty konnte sein Glück kaum fassen. Mit einer so großen Nachkommenschaft hatte er gar nicht gerechnet.
In den kommenden Wochen kümmerten sich die werdenden Eltern liebevoll und abwechselnd darum, dass es für ihren Nachwuchs jederzeit schön warm und trocken blieb.
Eines Tages war es dann soweit. Die kleinen Störche schlüpften und das junge Paar hatte fortan keine ruhige Minute mehr. Es war ganz schön anstrengend, diese große Kinderschar zu verköstigen. Besonders Stella stieß dabei bald an ihre Grenzen. Sie wirkte schon sehr abgemagert, als sie auf wackligen Beinen über die Wiese schritt und nach Futter suchte.
„Ist das nicht Stella dort unten?“, fragte sich Eddie, als er im Anflug auf die Wiese war. Bald darauf war er sich sicher, auch wenn ihr Gefieder stumpf und ihr Gang wenig graziös wirkten.
Eddie überlegte kurz, ob er weiter fliegen oder neben ihr landen und sie ansprechen sollte. Er entschied sich für Letzteres.
„Hallo, Stella, schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?“
„Ach Eddie, wenn ich ehrlich sein soll, nicht gut. Wir haben 5 Kinder, Spotty und ich, und die Nahrung wird langsam knapp. Für uns bleibt kaum noch etwas übrig, weil die Kinderchen einen großen Appetit entwickelt haben. Aber ich möchte mich nicht beklagen. Die Kleinen sind wirklich wundervoll.“
Eddie ging eine Weile schweigend neben Stella her. Hier war wirklich nicht mehr viel Essbares zu finden und das bedeutete weite Wege zu anderen Futterplätzen. Welche Auswirkungen das wiederum für die Familie hatte, wusste er nur zu gut – und Stella gewiss auch.
„Hast du keine Gefährtin gefunden?“, fragte sie nach einer Weile und Eddie schüttelte mit dem Kopf. Am liebsten hätte er geantwortet: „Ich wollte dich und sonst keine!“ Aber das verkniff er sich lieber. Er wollte die junge Mutter nicht noch mehr belasten und durcheinander bringen.
Eddie verabschiedete sich bald darauf und flog mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend davon. Auch wenn Spotty nicht sein Freund war, so beneidete er ihn nicht um die Aufgabe, die unausweichlich auf ihn zukommen würde.
In der darauf folgenden Nacht bekamen die jungen Eltern kaum ein Auge zu. Niemals hätten sie erwartet, dass sie eines Tages in eine derartige Situation kämen. Doch die Stunde der Entscheidung nahte. Das spürten sie.
Als Stella am darauf folgenden Tag zur Wiese flog, hoffte sie inständig, Eddie dort zu treffen. Sie wollte ihn dringend um etwas bitten. Bereits im Anflug sah sie ihn. Ob er bereits etwas ahnte?
Einige Tage später saßen Hein und Fiete wieder einmal auf ihrer Bank neben dem Horst. Sie trafen sich dort täglich und beobachteten dabei wortlos das Storchenpaar. Dass an diesem Tag etwas nicht stimmte, bemerkten sie sogleich: „Da brat mir doch einer ΄nen Storch!“, sagte Fiete nach einer Weile.
„Jau!“, erwiderte Hein. „So was hab ich auch noch nicht gesehen!“
Was war geschehen?
Der Tag, an dem Spotty zwei seiner schwächsten Kinder hätte töten müssen, um die stärksten am Leben zu erhalten, wäre unausweichlich gekommen. Deshalb hatte Stella sich ein Herz gefasst und Eddie um Hilfe gebeten.
Auch wenn Spotty zunächst nicht begeistert reagiert hatte, so nahm er mit Blick auf seine Frau und die Kinder doch die Hilfe von Eddie in Anspruch. Jetzt fütterten sie zu dritt den Nachwuchs und Eddie mauserte sich in den kommenden Wochen zu einem hilfsbereiten Onkel und wertvollen Lehrer für die Kleinen.

© Martina Pfannenschmidt, 2018


Nachtrag:
Diese Geschichte entstand nach einem Artikel in unserer Zeitung. Auf einem Foto war ein Storchenvater zu sehen, der eines seiner winzigen Kinder getötet und ein anderes damit gefüttert hatte. So ist es in der Natur. Ein Storchenvater muss zur Erhaltung seiner Art so handeln. – In einer Geschichte, so dachte ich mir, darf es aber durchaus anders sein. J