Dienstag, 15. Mai 2018

Die Frage aller Fragen


„Hey, Kai, schön dich zu sehen. Komm rein!“
„Bist du alleine?“, fragte dieser und es klang ziemlich geheimnisumwittert.
„Klar! Weshalb fragst du?“
Das würde er seinem besten Freund und Kumpel Sven in aller Ruhe erklären, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
Außerdem war es überhaupt nicht so klar, dass sein Freund alleine war. Schließlich gab es Bea, seine Freundin. Doch die war in diesem Moment tatsächlich nicht bei ihm und das war auch gut so!
„Willste ein Bier?“, fragte Sven.
„Gerne!“
Nachdem die beiden den ersten Schluck getrunken hatten, ließ Kai die Katze aus dem Sack.
„Pass auf“, meinte er und sah sich verschwörerisch um, so als könne doch noch jemand mithören. „Ich plane, Nicole einen Heiratsantrag zu machen.“ 
Weiter kam er nicht, da Sven begeistert ausrief: „Mensch, mein Freund. Das sind ja mal Neuigkeiten.“
Dabei schlug er seinem Kumpel anerkennend auf die Schulter.
„Also pass auf. Du sollst mir dabei helfen.“
„Jederzeit! Du weißt, für meinen besten Freund tue ich alles. Also fast alles“, schränkte er lieber noch ein.
Zwei Wochen später packten Kai und Nicole ihre Koffer. Sie planten ein verlängertes Wochenende in einem Wellnesshotel auf Rügen. Dass Kai noch mehr, als nur ein paar Tage Erholung bezweckte, ahnte seine Freundin natürlich nicht. Sie fand nur, dass er dringend zur Ruhe kommen müsste. In den letzten Tagen wirkte er irgendwie fahrig und nervös.
Als die beiden in ihrem Hotel angekommen waren, zog sich Kai für einen Moment zurück. Er musste letzte Absprachen mit seinem Freund Sven treffen. Dieser war mit seiner Freundin ebenfalls auf der Insel und es durfte auf keinen Fall zu einem Zusammentreffen kommen. Jedenfalls nicht, bevor Kai seine Frage gestellt hatte.
„Hey, Sven“, flüsterte Kai ins Handy. „Seid ihr auch schon angekommen?“
„Ja, Bea schwimmt schon die erste Runde im Pool. Ich hab halt noch auf deinen Anruf gewartet. Also, wie besprochen. Alles scheint nach Plan zu laufen. Ich habe mich gerade erkundigt. Die Windverhältnisse sollen morgen hervorragend sein. Ihr zwei solltet euch so zwischen 14 und 15 Uhr am Strand aufhalten. Du musst halt nach mir Ausschau halten und ich werde das Banner wie besprochen ausbreiten.“
Kai bekam seine Nervosität kaum noch in den Griff. Seine Hände begannen zu zittern. Hoffentlich klappte auch wirklich alles, wie besprochen und hoffentlich sagte seine Freundin ‚Ja’.
Am nächsten Tag bereitete Sven alles für seinen Gleitflug vor. Seine Freundin, die wenig Interesse an seinem Hobby zeigte, würde in der Zeit shoppen gehen oder den Wellnessbereich des Hotels nutzen. So war es zumindest besprochen. Mit einem Kuss verabschiedete sich Sven und zog mit all seinen Utensilien los. Auch er verspürte eine gewisse Anspannung. Schließlich lag eine große Verantwortung auf seinen Schultern.
Nachdem Sven gegangen war, empfand Bea weder Lust, shoppen zu gehen, noch wollte sie sich alleine in den Wellnessbereich begeben. Das Wetter war so herrlich. Sie würde sich ein Buch schnappen und zum Strand gehen.
Zur selben Zeit machten sich auch Nicole und Kai auf den Weg. Sie suchten sich einen schönen Platz am Strand. Von hier aus hatten sie einen guten Blick zur Steilküste. Von dort würde Sven starten. Aber das wusste natürlich nur Kai.
Sven bereitete sich zeitgleich auf seinen Flug vor. Er legte seine winddichte Kleidung an, hakte die Karabiner ein, legte das Banner so zurecht, dass er es zur rechten Zeit zücken konnte und überprüfte noch kurz, ob alle Gurte und Schnallen geschlossen waren. Dann wartete er mit dem ausgebreiteten Gleitschirm, bis die Windbedingungen passten, und lief los.
Genau zu diesem Zeitpunkt breitete seine Freundin ihr Strandtuch aus, cremte sich ein und sah sich um, ob sie jemanden fände, der ihr den Rücken eincremen würde.
„Das gibt es doch nicht!“, rief sie aus und begann, auf sich aufmerksam zu machen, indem sie mit beiden Armen winkte.
„Das gibt es doch nicht!“, rief nun auch Nicole, die darauf aufmerksam wurde. „Das ist doch Bea dort hinten. Was macht die denn hier?“
Beide Frauen liefen aufeinander zu, um diese Frage zu klären. Kai allerdings blieb wie angewurzelt stehen. Dass Bea hier auftauchte, das war nun wirklich nicht geplant.
Nachdem sich die beiden Frauen ausgetauscht hatten, legten sie sich nebeneinander in den Sand und konnten gar nicht glauben, dass ihre beiden Männer nicht über dieses verlängerte Wochenende und ihre jeweilige Kurzreise auf diese Insel gesprochen hatten. Aber so waren sie halt, die Männer!
Unruhig lief Kai am Strand auf und ab. Keine Spur von romantischer Stimmung. Aber er hatte auch keine Chance, das Ganze abzubrechen. Sven wusste ja von nichts und würde sicher bald auftauchen. Und dann war es Bea, die rief: „Schau, dort, die Drachenflieger. Da muss Sven dabei sein.“ Und bald darauf: „Da ist er. Ich erkenne ihn an seinem Fallschirm in den schönen Regenbogenfarben.“
Auch Nicole sprang auf und schaute sich das Schauspiel am Himmel an. Sven kam immer näher und näher auf sie zu und damit auch das Banner mit der Frage: ‚Willst du mich heiraten?’
Bea wurde blass, dann rot, dann wieder blass. Dann schrie sie, in der Hoffnung, dass Sven sie hören konnte: „Ja, mein Liebling, ja, ja, ja!“
Kai war weiß wie die Wand. Hier lief etwas aus dem Ruder und zwar gewaltig. Das war SEIN Heiratsantrag an Nicole und nicht der von Sven an Bea.
Kai musste jetzt die Wahrheit sagen, sonst würde sein Freund ihm den Kopf abreißen. „Aber das war doch gar nicht so geplant“, sagte er panisch, und an Bea gerichtet: „Du solltest gar nicht hier sein, zu diesem Zeitpunkt. Sven ist nur der Überbringer der Frage. Gemeint bist du, Nicole. ICH möchte DICH fragen, ob du mich heiratest.“
Am Abend saßen die vier gemeinsam beim Italiener. Nicole strahlte mit ihrem Verlobungsring, den sie stolz am Finger trug, um die Wette. Bea hatte sich inzwischen wieder beruhigt, auch wenn sie immer noch nicht über die Situation lachen konnte. Sie hätte sich halt auch sehr über einen Heiratsantrag gefreut.
Als sie ihr Tiramisu löffelten, griff Sven plötzlich in seine Jackentasche und begann, rote Rosenblätter auf dem Tisch zu verteilen. Alle Blicke waren von dem Moment an auf ihn gerichtet.
Er nahm die Hand seiner Freundin und sagte: „Dass du so enttäuscht wurdest, war von mir wirklich nicht geplant. Aber heute läuft eben nichts nach Plan. Vielleicht aber doch. Nämlich dann, wenn auch du ‚Ja’ auf meine Frage sagst.“
Dabei holte er ein kleines Schächtelchen aus seiner anderen Jackentasche, kniete vor seiner Freundin nieder und stellte die Frage aller Fragen.
Ein halbes Jahr später wurde eine romantische Doppelhochzeit gefeiert.

© Martina Pfannenschmidt, 2018