Mittwoch, 2. Mai 2018

Das Vogelkind


Lilly, ein süßes kleines Mädchen mit blonden Haaren und niedlichen Zöpfen, spielte draußen im Garten. Die Sonne schien und die Kleine trug ihr Lieblingskleid. Es hat Rüschen am Halsausschnitt und am Saum und ist übersät mit unzähligen kleinen und kunterbunten Punkten.
Ohne Unterlass bemühte sie sich, ihren nagelneuen und quietschgelben Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüften kreisen zu lassen. Gar nicht so einfach, diese so zu schwingen, dass der Reifen nicht zu Boden fiel. Leider passierte ihr das immer und immer wieder. Doch Lilly gab nicht auf. Sie gab niemals auf. Tapfer übte sie weiter.
Während sie zum xten Mal ihren Reifen vom Boden aufnahm, sah sie, wie eine Amsel aufgeregt umher hüpfte und dabei warnende Rufe ausstieß. Lilly war sofort klar, dass dort etwas nicht stimmte. Spontan warf sie den Reifen zur Seite und machte sich langsam auf den Weg Richtung Gebüsch. Schließlich wollte sie den Vogel nicht vertreiben, sondern nur schauen, was ihn derart in Aufregung versetzte. Leise und einfühlsam sprach sie auf ihn ein: „Was ist denn los mit dir? Warum zeterst du hier so herum?“
Vorsichtig bog das Mädchen einen Zweig zur Seite und schon sah es die Bescherung. Ein Vogelkind war aus dem Nest gefallen. Kein Wunder, dass die Mama derart reagierte. Was war zu tun? Der kleine Vogel konnte noch nicht fliegen, saß verschreckt und zusammen gekauert dort. Er gab wirklich ein trauriges Bild ab. Lilly musste eingreifen, und zwar, bevor die Nachbarkatze etwas mitbekam und sich das Vogelbaby schnappte. – Ein schauerlicher Gedanke.
Während das Mädchen versuchte, das Kleine vorsichtig zu greifen, flog die Vogelmama aufgeregt um Lilly herum.
„Ich will dir und deinem Kind doch nur helfen“, rief sie ihr zu. „Schau, ich glaube, dein Kleines hat sich am Bein verletzt. Das muss ich meiner Mama zeigen. Die wird es schienen und dann behalten wir dein Kind bei uns im Haus. Hörst du! Wir werden uns ab jetzt darum kümmern. Mach dir bitte keine Sorgen und achte auf deine anderen Kinder!“
Behutsam ging das Mädchen mit dem kleinen Patienten in ihrer Hand Richtung Haus. „Mama, komm schnell“, rief Lilly, als sie die Küche betrat, „wir müssen ein Vogelbaby retten.“
Mama musste schmunzeln. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie viele verletzte Tiere ihre Tochter schon nach Hause gebracht hatte. Diesmal war es nun ein Vogel und wie es schien, hatte er sich am Bein verletzt.
„Mama, du musst dem Vogel das Bein schienen. Er hat sich beim Sturz aus dem Nest verletzt“, meinte Lilly besorgt.
„Aber wie stellst du dir das vor?“, fragte Mama. „So ein kleines Beinchen. Wie sollen wir das schienen?“
„Dir muss etwas einfallen! Dir fällt doch immer etwas ein!“
Bald darauf brach Mama ein Streichhölzchen auf die Länge des Vogelbeinchens. Achtsam legte sie es an und fixierte es mit einem schmalen Klebestreifen, während Lilly den kleinen Vogel vorsichtig in ihren Händen hielt.
„Sieht doch gut aus, oder?“, fragte Mama und war recht stolz auf das Ergebnis.
„Sieht super aus“, bestätigte Lilly und fragte sogleich: „Und nun, was machen wir jetzt mit ihm?“
Mama holte ein weiches Kissen und boxte mit ihrer Hand eine Kuhle in die Mitte.
„Leg ihn dort hinein“, meinte sie, „und dann ab Marsch mit dir in den Garten und Regenwürmer suchen. Wenn der Kleine überleben soll, braucht er Futter.“
Dass Lilly da nicht selber drauf gekommen war. Klar, sie musste Futter suchen. Jetzt war sie ja quasi die Vogelmama. Doch so leicht, wie es bei den Vögeln aussah, war die Regenwürmersuche für Lilly nicht. Dennoch gab sie nicht auf. Wie so oft schon, zeigte das Mädchen auch in dieser Beziehung Durchhaltevermögen - und das sogar über viele Tage.
Der kleine Vogel wuchs prächtig und auch sein Bein war bald geheilt. Er würde überleben und eines Tages das Fliegen erlernen.
Zwar wusste Lilly noch nicht, wie sie ihrem Schützling dies beibringen sollte, doch sie würde es schaffen. Da war sie sich sicher. Sie müsste nur die anderen Vögel beobachten und es ihnen gleichtun. Und wenn sie darin erfolgreich wäre, würde sie vielleicht eines Tages eine Fliegeschule eröffnen.
Wie es nicht anders zu erwarten war, gelang es Lilly tatsächlich, dem Vogel nicht nur das Suchen nach Futter beizubringen, sondern auch das Fliegen. Bald schaffte das herangewachsene Vogelkind ein paar Flügelschläge und irgendwann hielt es sich tapfer in der Luft. Lilly war so stolz auf ihren Schützling – aber ein kleines bisschen auch auf sich selbst.
Gerade als ein paar Abschiedstränchen kullern wollten, kam der Vogel zurück und setzte sich auf Lillys Schulter.
Sie drehte ihren Kopf zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: „Mach es gut, mein Kleiner und wenn du magst, dann komm mich doch mal wieder besuchen.“
Von da an sah man täglich, wie ein kleiner Vogel auf der Fensterbank unter Lillys Zimmerfenster hockte und mit seinem Schnabel an die Scheibe pickte. Das machte er so lange, bis das Fenster geöffnet wurde und ein kleines Mädchen mit blonden Haaren und niedlichen Zöpfen heraus schaute, die Hand ausstreckte und den Vogel für ein paar Minuten an ihr Herz drückte.

© Martina Pfannenschmidt, 2018