Samstag, 31. März 2018

Ungelegte Eier

Der blaue Himmel mit strahlendem Sonnenschein kündigte das nahende Frühjahr an, so dass die Tiere aus ihrem Winterschlaf erwachten und die Menschen ihre Mützen und Schals zurück in den Schrank legten. Überhaupt war allerorten ein Gewimmel und Gewusel zu vernehmen und noch etwas lag spürbar in der Luft: Frühlingsgefühle!

Und so hatte auch Roberta ihren Liebsten bereits gefunden, aber nicht nur das. Sie würden bald Eltern von drei zauberhaften kleinen Rabenkindern sein. Zum ersten Mal wurde sie Mutter und sie führte die Aufgabe, die ihr nun zukam, mit großer Hingabe und voller Stolz aus.

Während sie völlig entspannt und überaus glücklich auf ihren Eiern saß, hatte sie viel Zeit, um nachzudenken. Zum Beispiel darüber, ob sie eine gute Mutter sein würde. Sie wusste, dass Rabenmütter bei den Menschen einen schlechten Ruf genießen. Das empörte Roberta jedoch, weil es einfach nicht der Wahrheit entspricht. Rabenmütter schubsen ihre Kinder nicht aus dem Nest, wie manchmal vermutet wird, sondern die Jungvögel verlassen es freiwillig, und das, bevor sie fliegen können. Roberta musste sich allerdings eingestehen, dass die am Boden hockenden Jungtiere wirklich sehr verlassen wirken. Doch das ist nicht so. Rabeneltern versorgen ihre Kinder auch dann noch mit Nahrung und beschützen sie vor Feinden.
Während Roberta all diese Gedanken durch den Kopf gingen, geschah etwas Eigenartiges. Sie machte sich plötzlich Sorgen. Sorgen darum, wie es sein würde, wenn sie nicht genügend Futter fänden oder wenn sie ihre Kinder doch nicht beschützen könnten. Was wäre, wenn Robert, der Rabenvater in spe, gar nicht zu ihr zurückkäme, weil ihm etwas zugestoßen war und sie ihre Kinder alleine aufziehen müsste? Sie als alleinerziehende Mutter?! Ob sie das schaffen würde? Roberta wurde regelrecht übel!
Das Gedankenkarussell in ihrem Kopf ließ sich einfach nicht mehr anhalten, ganz im Gegenteil. Es schien, als würde es immer mehr an Fahrt aufnehmen und schneller und schneller werden. Roberta malte sich letztendlich rabenschwarze Szenarien aus.
In Gedanken sah sie sich völlig ausgemergelt unter einem kläglichen Baum sitzen; ihre Kinder, fast verhungert, neben sich.
Es war verrückt, doch es schien, als würde es in ihrem Nest immer enger, weil die Sorgen einen so großen Raum einnahmen. Ihr gerade noch empfundenes Glück hatte sich anscheinend unter das Nest verkrochen und war nicht gewillt, wieder hervorzukommen.
Eigentlich könnte sie glücklich sein, sagte sie sich, zufrieden mit dem Moment, doch stattdessen fütterte sie ihre Sorgen, die immer dicker wurden, so dass für das Glück dem Anschein nach gar kein Platz mehr war.
Just in dem Moment setzte sich ein junges Paar auf die Bank unter dem Baum, auf dem Roberta saß.
„Hätte ich mir doch nur einen anständigen Job gesucht“, sagte die männliche Person. „Weißt du, was Sicheres, wie eine Ausbildung bei einer Bank oder so. Manchmal denke ich, dass ich an jeder Gabelung einen falschen Weg gewählt habe.“
„Bei der Bank!“, rief die weibliche Person aus. „Als wenn du dort glücklich geworden wärst. Du interessierst dich doch überhaupt nicht für Zahlen, nicht einmal für meine Schuhgröße.“
Dabei lachte sie auf und meinte anschließend: „Hör auf, dich in ‚Hätte-ich-nurs’ zu verstricken. Das bringt doch nichts. Du bist durch und durch Musiker und kein Banker.“
„Werde ich denn auf Dauer wirklich genug damit verdienen? Also, ganz ehrlich, das macht mir schon Sorgen.“
„Das verstehe ich ja, doch vielleicht ist das jetzt gerade so eine Art Durststrecke, die es zu überwinden gilt.“
„Aber schau“, erwiderte der Mann, „nicht einmal meine Eltern glauben an meinen Erfolg. Ich sei ein Träumer, sagen sie.“
„Oh, das kenne ich“, meinte die Frau daraufhin, „es tut ganz schön weh, wenn andere über uns urteilen. Wie uns das verletzt, weiß ich aus eigener Erfahrung; doch wenn wir nicht auf unser Herz hören, sondern uns zu sehr von der Meinung anderer beeinflussen lassen, leben wir letztendlich nicht mehr unser Leben und unsere Träume, sondern die der anderen. Ja, ich weiß, es ist leicht, zu sagen, mach dein Ding und hör nicht auf andere. Aber bedenke bitte, dass niemand weiß, was die Zukunft für ihn bringen wird. Sie ist sozusagen wie ein ungelegtes Ei für uns. Also hör auf, darüber zu brüten, was möglicherweise, eventuell, irgendwann einmal passiert.“
Nach diesem kurzen Gespräch erhoben sich die beiden Menschen und setzten ihren Weg fort.
Im selben Moment kam Robert zurück und ließ sich auf einen Zweig direkt neben Roberta nieder. Sie sah ihn mit weit geöffneten Augen an, als sie tief beeindruckt sagte: „Das ist wirklich spektakulär!“
„Was denn, mein Liebes?“
„Dass die Menschen in der Lage sind, ungelegte Eier auszubrüten!“

© Martina Pfannenschmidt, 2018

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