Samstag, 10. März 2018

Graufellchen (19) – Auszug


„Schau nur, Karl, die Sonne lacht und scheint zum Fenster herein, genau wie damals an dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegneten.“
Gerda öffnete das Fenster weit und ließ sich die wärmenden Sonnenstrahlen direkt ins Gesicht scheinen.
Karl trat hinter seine Frau: „Ist es nicht unglaublich, dass es heute auf den Tag genau 55 Jahre her ist, seit wir uns kennen lernten? Wenn ich ehrlich bin, kommt es mir gar nicht so vor, als wäre seither so viel Zeit vergangen.“
Während sich Gerda ihrem Mann zuwandte, sagte sie: „Ich möchte keinesfalls eine einzige Minute davon vermissen und wenn ich an unsere erste Zeit zurück denke, beginnen die Schmetterlinge in meinem Bauch erneut zu fliegen.“
Karl lächelte: „Es ist schon etwas Besonderes, verliebt zu sein, nicht wahr. Aber stell dir nur einen Moment vor, wir hätten den Sprung von der Verliebtheit zur Liebe nicht geschafft.“
„Ach Karl, das mag ich mir nicht vorstellen. Ich hätte mich niemals von dir trennen wollen.“
„Ich doch auch nicht, Gerda. Aber es ist zweifelsohne so, dass die Verliebtheit irgendwann endet und nicht immer wird Liebe daraus.“
„Ja, leider müssen viele diese Erfahrung machen“, erwiderte Gerda ernst und fragte ihren Mann: „Was denkst du, woran erkennt man, dass es Liebe ist?“
„O je, da stellst du mir eine Frage, der ich mich zuerst einmal nähern muss. Also, wenn wir verliebt sind, denken wir häufig an den Partner, aber es fehlt noch das Vertrauen. Das stellt sich erst später ein, denke ich. Ich weiß nicht, ob es schon Liebe ist, wenn man Freude am Zusammensein empfindet, gerne zärtlich ist. Das sind wohl alles Dinge, die wir auch schon während der Zeit des verliebt Seins fühlen.“
„Ich glaube, dass Liebe viel mit Ehrlichkeit zu tun hat und damit, dass wir sozusagen Verantwortung für die andere Person übernehmen“, entgegnete Gerda, „und ganz sicher gehört die Wertschätzung des Partners dazu und auch, seine Schwächen zu akzeptieren.“
Beide lachten, denn jeder kannte schon lange die kleinen Schwächen des anderen, die einfach zu ihm gehörten.
Vorsichtig lugte Graufellchen aus seiner kleinen Höhle hervor. Es war fast so, als tanzten seine Hormone bei all den Zärtlichkeiten, die diese beiden Menschen allein mit ihren Worten austauschten, Polka.
Dieses wahre Feuerwerk an Gefühlen wollte er unbedingt erleben. Es musste sich prickelnd anfühlen, verliebt zu sein. Das wollte er auch empfinden, doch noch nicht heute. Heute wollte er noch voll und ganz den Tag bei diesen beiden Menschen verbringen.
„Viele sagen“, meinte Karl in diesem Moment, „dass es der Alltag ist oder Geldsorgen, wenn eine Beziehung scheitert.“
„Oder schmutzige Wäsche vor dem Bett“, lachte Gerda. „Aber im Ernst, es ist doch wirklich schade, wenn Beziehungen an solchen Banalitäten scheitern.“
„Gewiss, das ist wirklich bedauerlich. Weißt du, Gerda, ich glaube, dass es ein kleines Mysterium bleibt, was wahre Liebe wirklich ausmacht“, philosophierte Karl. „Vielleicht ist es Liebe, wenn der Gedanke, den anderen nicht mehr an seiner Seite zu haben, dir die Luft zum Atmen nimmt.“
„Ach Karl, das hast du wunderbar gesagt“, schwärmte Gerda und sah ihren Mann voller Liebe an.
„Ich denke gerade“, fuhr Karl fort, „dass es auch wichtig ist, sich nicht selbst zu verlieren und es dem anderen ausschließlich recht machen zu wollen.“
„Wer so handelt, wird Angst vor der Einsamkeit haben“, vermutete Gerda, „aber ich denke, dass es für eine Beziehung wichtig ist, authentisch zu bleiben. Wenn sich einer der Partner ständig verbiegen muss, wird es schief gehen. Ja und ein Schönwetter-Gesicht aufzusetzen, wenn es innen drin brodelt, ist auf keinen Fall ein guter Weg.“
„Es ist nur oft so“, meinte Karl daraufhin, „dass man denkt, den Partner verschonen zu wollen. Allerdings muss ich sagen, dass es dir nach so vielen Jahren nicht mehr gelingen würde, mir etwas vorzuspielen. Dafür kenne ich dich viel zu gut, als dass du deine Gefühle vor mir verstecken könntest.“
„Ich merke auch, wenn mit dir etwas nicht stimmt“, erwiderte Gerda, „und unfair finde ich es außerdem und enorme Kraft kostet es zudem, wenn wir versuchen, uns zu verbiegen.“
Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, sagte Gerda: „Wenn wir so darüber sprechen, scheint dieses Vortäuschen falscher Gefühle fast harmlos zu sein, doch ich denke, dass man in diesen Momenten den Partner regelrecht belügt.“
„Das ist so“, bestätigte Karl. „Lügen und Notlügen sind ein Thema, mit dem wir uns auch einmal auseinander setzen sollten.“
„Ach Karl“, erwiderte Gerda und zeigte vielsagend Richtung Mausehöhle, „wo du das gerade so sagst, fällt mir etwas ein.“
„Sooooooo?!“, fragte Karl und wusste in diesem Augenblick noch nicht, was Gerda im Schilde führte.
Als sie das Fenster schloss und die beiden Menschen diesen Platz verließen, zog Graufellchen sein Näschen ein Stückchen zurück. Seine Ohren waren allerdings weit aufgestellt. Auf keinen Fall wollte er verpassen, was Gerda noch zu sagen hatte.
„Das ist nämlich so, Karl, dass mich die Mia aus dem Nachbarhaus gefragt hat, ob wir ihr nicht eines ihrer kleinen Kätzchen abnehmen könnten. Du weißt doch, dass ihre Katze einige Junge bekommen hat. Also, mir gefällt dieser Gedanke. Es muss schön sein, wenn so ein süßer kleiner Stubentiger um die Beine schleicht.“
Graufellchen traute seinen Ohren kaum. Seine Nackenhaare stellten sich allein bei dem Gedanken an eine Katze in seinem Umfeld hoch.
Er schaute sich in seiner winzigen Höhle um. Mit einem Mal erschien sie ihm viel zu klein und eng und er wusste ganz sicher: Er musste hier weg und zwar so schnell wie möglich. In Windeseile packte er sein kleines Bündel und machte sich ohne einen Blick zurück auf den Weg Richtung Freiheit.
Gerda flüsterte Karl derweil ins Ohr: „Ich möchte unserem Mäuschen den Auszug ein bisschen erleichtern. Deshalb hab ich zu diesem kleinen Trick gegriffen. Es gibt nämlich gar keine kleinen Kätzchen in der Nachbarschaft“, kicherte sie, „aber psssssst.“ Dabei hielt sie einen Zeigefinger vor ihren Mund und sah ihren Mann verschmitzt an.
Karl war in diesem Moment voller Liebe für seine Frau. Selbst nach 55 Jahren überraschte sie ihn immer noch. Und diese kleine Notlüge musste man ihr einfach verzeihen.

© Martina Pfannenschmidt, 2018


Nun hat mich das 'Graufellchen' eine ganze Weile
zu Geschichten angeregt - doch mit seinem Auszug
endet diese kleine Reihe über das graue Mäuschen.

Danke euch fürs Lesen und
Danke dem Mäuschen (und natürlich Gerda und Karl)
für die Inspiration.
:-)