„Schau
nur, Karl, die Sonne lacht und scheint zum Fenster herein, genau wie damals an
dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegneten.“
Gerda
öffnete das Fenster weit und ließ sich die wärmenden Sonnenstrahlen direkt ins
Gesicht scheinen.
Karl
trat hinter seine Frau: „Ist es nicht unglaublich, dass es heute auf den Tag
genau 55 Jahre her ist, seit wir uns kennen lernten? Wenn ich ehrlich bin,
kommt es mir gar nicht so vor, als wäre seither so viel Zeit vergangen.“
Während
sich Gerda ihrem Mann zuwandte, sagte sie: „Ich möchte keinesfalls eine einzige
Minute davon vermissen und wenn ich an unsere erste Zeit zurück denke, beginnen
die Schmetterlinge in meinem Bauch erneut zu fliegen.“
Karl
lächelte: „Es ist schon etwas Besonderes, verliebt zu sein, nicht wahr. Aber stell
dir nur einen Moment vor, wir hätten den Sprung von der Verliebtheit zur Liebe
nicht geschafft.“
„Ach
Karl, das mag ich mir nicht vorstellen. Ich hätte mich niemals von dir trennen
wollen.“
„Ich
doch auch nicht, Gerda. Aber es ist zweifelsohne so, dass die Verliebtheit
irgendwann endet und nicht immer wird Liebe daraus.“
„Ja,
leider müssen viele diese Erfahrung machen“, erwiderte Gerda ernst und fragte
ihren Mann: „Was denkst du, woran erkennt man, dass es Liebe ist?“
„O
je, da stellst du mir eine Frage, der ich mich zuerst einmal nähern muss. Also,
wenn wir verliebt sind, denken wir häufig an den Partner, aber es fehlt noch
das Vertrauen. Das stellt sich erst später ein, denke ich. Ich weiß nicht, ob
es schon Liebe ist, wenn man Freude am Zusammensein empfindet, gerne zärtlich
ist. Das sind wohl alles Dinge, die wir auch schon während der Zeit des verliebt
Seins fühlen.“
„Ich
glaube, dass Liebe viel mit Ehrlichkeit zu tun hat und damit, dass wir
sozusagen Verantwortung für die andere Person übernehmen“, entgegnete Gerda, „und
ganz sicher gehört die Wertschätzung des Partners dazu und auch, seine
Schwächen zu akzeptieren.“
Beide
lachten, denn jeder kannte schon lange die kleinen Schwächen des anderen, die
einfach zu ihm gehörten.
Vorsichtig
lugte Graufellchen aus seiner kleinen Höhle hervor. Es war fast so, als tanzten
seine Hormone bei all den Zärtlichkeiten, die diese beiden Menschen allein mit
ihren Worten austauschten, Polka.
Dieses
wahre Feuerwerk an Gefühlen wollte er unbedingt erleben. Es musste sich prickelnd
anfühlen, verliebt zu sein. Das wollte er auch empfinden, doch noch nicht
heute. Heute wollte er noch voll und ganz den Tag bei diesen beiden Menschen verbringen.
„Viele
sagen“, meinte Karl in diesem Moment, „dass es der Alltag ist oder Geldsorgen,
wenn eine Beziehung scheitert.“
„Oder
schmutzige Wäsche vor dem Bett“, lachte Gerda. „Aber im Ernst, es ist doch
wirklich schade, wenn Beziehungen an solchen Banalitäten scheitern.“
„Gewiss,
das ist wirklich bedauerlich. Weißt du, Gerda, ich glaube, dass es ein kleines
Mysterium bleibt, was wahre Liebe wirklich ausmacht“, philosophierte Karl. „Vielleicht
ist es Liebe, wenn der Gedanke, den anderen nicht mehr an seiner Seite zu
haben, dir die Luft zum Atmen nimmt.“
„Ach
Karl, das hast du wunderbar gesagt“, schwärmte Gerda und sah ihren Mann voller
Liebe an.
„Ich
denke gerade“, fuhr Karl fort, „dass es auch wichtig ist, sich nicht selbst zu
verlieren und es dem anderen ausschließlich recht machen zu wollen.“
„Wer
so handelt, wird Angst vor der Einsamkeit haben“, vermutete Gerda, „aber ich
denke, dass es für eine Beziehung wichtig ist, authentisch zu bleiben. Wenn
sich einer der Partner ständig verbiegen muss, wird es schief gehen. Ja und ein
Schönwetter-Gesicht aufzusetzen, wenn es innen drin brodelt, ist auf keinen
Fall ein guter Weg.“
„Es
ist nur oft so“, meinte Karl daraufhin, „dass man denkt, den Partner verschonen
zu wollen. Allerdings muss ich sagen, dass es dir nach so vielen Jahren nicht
mehr gelingen würde, mir etwas vorzuspielen. Dafür kenne ich dich viel zu gut,
als dass du deine Gefühle vor mir verstecken könntest.“
„Ich
merke auch, wenn mit dir etwas nicht stimmt“, erwiderte Gerda, „und unfair finde
ich es außerdem und enorme Kraft kostet es zudem, wenn wir versuchen, uns zu
verbiegen.“
Nachdem
beide eine Weile geschwiegen hatten, sagte Gerda: „Wenn wir so darüber
sprechen, scheint dieses Vortäuschen falscher Gefühle fast harmlos zu sein,
doch ich denke, dass man in diesen Momenten den Partner regelrecht belügt.“
„Das
ist so“, bestätigte Karl. „Lügen und Notlügen sind ein Thema, mit dem wir
uns auch einmal auseinander setzen sollten.“
„Ach
Karl“, erwiderte Gerda und zeigte vielsagend Richtung Mausehöhle, „wo du das gerade so
sagst, fällt mir etwas ein.“
„Sooooooo?!“,
fragte Karl und wusste in diesem Augenblick noch nicht, was Gerda im Schilde
führte.
Als
sie das Fenster schloss und die beiden Menschen diesen Platz verließen, zog Graufellchen sein Näschen ein Stückchen zurück. Seine Ohren
waren allerdings weit aufgestellt. Auf keinen Fall wollte er verpassen, was
Gerda noch zu sagen hatte.
„Das
ist nämlich so, Karl, dass mich die Mia aus dem Nachbarhaus gefragt hat, ob wir
ihr nicht eines ihrer kleinen Kätzchen abnehmen könnten. Du weißt doch, dass
ihre Katze einige Junge bekommen hat. Also, mir gefällt dieser Gedanke. Es muss
schön sein, wenn so ein süßer kleiner Stubentiger um die Beine schleicht.“
Graufellchen
traute seinen Ohren kaum. Seine Nackenhaare stellten sich allein bei dem
Gedanken an eine Katze in seinem Umfeld hoch.
Er
schaute sich in seiner winzigen Höhle um. Mit einem Mal erschien sie ihm viel
zu klein und eng und er wusste ganz sicher: Er musste hier weg und zwar so
schnell wie möglich. In Windeseile packte er sein kleines Bündel und machte
sich ohne einen Blick zurück auf den Weg Richtung Freiheit.
Gerda
flüsterte Karl derweil ins Ohr: „Ich möchte unserem Mäuschen den Auszug ein
bisschen erleichtern. Deshalb hab ich zu diesem kleinen Trick gegriffen. Es
gibt nämlich gar keine kleinen Kätzchen in der Nachbarschaft“, kicherte sie, „aber
psssssst.“ Dabei hielt sie einen Zeigefinger vor ihren Mund und sah ihren Mann
verschmitzt an.
Karl
war in diesem Moment voller Liebe für seine Frau. Selbst nach 55 Jahren
überraschte sie ihn immer noch. Und diese kleine Notlüge musste man ihr einfach
verzeihen.
©
Martina Pfannenschmidt, 2018
Nun hat mich das 'Graufellchen' eine ganze Weile
zu Geschichten angeregt - doch mit seinem Auszug
endet diese kleine Reihe über das graue Mäuschen.
Danke euch fürs Lesen und
Danke dem Mäuschen (und natürlich Gerda und Karl)
für die Inspiration.
:-)