Montag, 26. Februar 2018

Graufellchen (18) – Erfahrungen


Graufellchen freute sich, als er die Haustür ins Schloss fallen hörte. Das war das Zeichen dafür, dass seine Lieblingsmenschen von einem ausgiebigen Spaziergang zurückkamen. Er musste sich eingestehen, dass sie ihm schon ein bisschen gefehlt hatten. Es war immer so still, wenn sie nicht da waren.
„Brrrr“, hörte er aus dem Flurbereich, „der Wind ist wirklich schneidend kalt, aber die Luft herrlich und der Himmel so wunderbar blau. Ach, wie habe ich das vermisst.“
„Ich auch, meine Liebe“, erwiderte Karl, „aber jetzt müssen wir uns zuerst einmal aufwärmen.“
„Ich werde uns einen Tee kochen. Der wird uns gut tun und wärmen.“
Als die beiden eine Weile später in ihren gemütlichen Sesseln saßen und ihren heißen Tee tranken, sagte Gerda: „Ist es nicht herrlich, dass man trotz der Kälte schon den nahenden Frühling erahnen kann. Ich freue mich so sehr auf die ersten Blumen und die Farbkleckse, die es dann wieder allerorten zu sehen gibt.“
„Geht mir wie dir, Gerda. Alle Jahreszeiten haben etwas Schönes, doch das Frühjahr mag ich am meisten.“
„Erstaunlich finde ich, dass sich die ersten Kraniche schon wieder auf den Weg zurück zu uns in den Norden machen. Es war so schön, ihre Rufe zu hören.“
Kraniche? Graufellchen wurde ganz kribbelig. War das Frühjahr so fassbar nahe? Bei dem Gedanken befiel ihn Freude und Traurigkeit zugleich. Wie schön würde es für ihn sein, wieder draußen in der Natur zu sein und wie traurig andererseits, weil er von den beiden Menschen Abschied nehmen musste.
„Gewiss wird uns unser kleines Mäuschen bald verlassen“, hörte er Gerda sagen. „Es will bestimmt Hochzeit feiern und eine Familie gründen.“
Graufellchen war baff! Konnte Gerda Gedanken lesen, oder woher wusste sie sonst von seinen Plänen?
„Weißt du Karl, ich wünsche allen Menschen und auch unserem Mäuschen ein glückliches Händchen bei der Partnerwahl. Es ist so wichtig, den passenden Partner an seiner Seite zu haben.“
„Da empfinde ich wie du, Gerda! Es ist das größte Glück auf Erden.“
Gerda nickte und meinte: „Es ist so eine Sache mit dem Glück. Jeder empfindet da anders. Aber wenn wir unser Glück bereits in kleinen alltäglichen Dingen und in den Menschen finden und sehen, ist es einfacher, ein glückliches Leben zu führen.“
„Für mich ist das größte Glück, wenn ich morgens erwache und du neben mir liegst.“
„Ach Karl“, entgegnete Gerda gerührt, „womit habe ich dich bloß verdient.“
Nicht nur Gerda wurde ganz warm ums Herz, sondern auch dem kleinen grauen Mäuschen. Es wollte sich auch eine Frau suchen, neben der es morgens gerne und glücklich erwachte.
„Weißt du, Gerda, ich denke einfach, dass es ganz wichtig ist, dass man sich in seinem häuslichen Umfeld wohl und geborgen fühlt. In der Welt ist soviel los, die Erde ist so wund und das, obwohl es so viele Menschen gibt, die ihr Herz am rechten Fleck haben.“
„Dennoch scheint die Welt aus den Fugen zu geraten.“
„Das Schlimmste sind die kriegerischen Auseinandersetzungen“, meinte Karl. „Manche Menschen denken einfach, ihnen gehöre ein bestimmter Teil unserer Erde und kämpfen darum.“
Gerda erwiderte sarkastisch: „Eines Tages kämpfen sie noch um das letzte bisschen Wasser oder die letzte gesunde Luft.“
„Das wollen wir bei Gott nicht hoffen. Irgendwann müssen die Menschen doch dazu lernen. Denkst du nicht?“
„O Karl, darauf hoffe ich sehr, doch solange den meisten Menschen Geld wichtiger ist als die Umwelt, unser Wasser, die Luft und alle Lebewesen, wird wohl noch viel Wasser den Rhein herunter fließen, bis es soweit ist.“
„Wir treten so vieles mit Füßen. Auch Werte wie Güte, Mitgefühl und Nachsicht. Manchmal habe ich den Eindruck, das Egoismus und Härte als Stärke verstanden werden und alles andere als Schwäche. Und wer möchte schon gerne als schwach angesehen werden.“
„Weißt du Karl, ich frage mich immer, wo der Fehler liegt. Warum herrscht soviel Gewalt und warum behandeln wir unsere Natur so schlecht? Warum töten wir jeden Tag Millionen von Tieren, um Massen an Fleisch zu haben, die uns vielleicht sogar krank machen?“
„Da wird man wirklich nachdenklich, Gerda. Wir können nur hoffen, dass weise Menschen Änderungen herbeiführen.“
„Das ist so eine Sache mit der Weisheit“, entgegnete seine Frau.
Nach einer Weile des Schweigens und Nachdenkens erwiderte Karl: „Wenn wir davon ausgehen, dass alles einen Sinn hat, dann ist es wohl so, dass wir Menschen schlimme Erfahrungen brauchen, um weiser zu werden.“
„Ja und leider lernen die Jüngeren nicht von den Älteren, weil jeder seine eigenen Erfahrungen machen muss. So manches Kind glaubt halt erst, dass man sich an einer heißen Herdplatte verbrennt, wenn es diese Erfahrung selbst gemacht hat. Das heißt doch, dass Kinder nicht automatisch durch gewonnene Erfahrungen älterer Menschen lernen.“
„Genau so ist es, Gerda. Außerdem macht ja nicht nur jeder Mensch seine Erfahrungen, sondern auch jede Generation. Da nützt es wenig, wenn die ältere Generation der jüngeren Ratschläge gibt. Irgendwie scheint dieses System niemals ein Ende zu finden.“
„Dabei könnten wir doch alle aus unserer Geschichte lernen, nicht wahr?“
„Könnten wir, aber ist es nicht so, dass sich eigentlich gar nichts wiederholt, weil sich sozusagen die Rahmenbedingungen ständig verändern?“
„Ach Karl, warum können wir Menschen nicht begreifen, dass uns diese Welt nicht gehört? Warum kämpfen wir um ein Stück Land? Das ist doch Wahnsinn. Niemand kann doch etwas mitnehmen, wenn er eines Tages von hier geht. Wird das alles denn niemals ein  Ende haben?“

© Martina Pfannenschmidt, 2018