Samstag, 27. Januar 2018

Graufellchen (17) – Stürmische Zeiten

Graufellchen hatte so einiges gelernt, seit er bei Karl und Gerda Unterschlupf gefunden hatte. So wusste er zum Beispiel, dass es dem Wetter möglich ist, Kapriolen zu schlagen. Karl hatte das neulich so gesagt.
Und noch etwas hatte er gelernt: Nachrichten mussten sehr wichtig sein. Zumindest schauten Karl und Gerda sie jeden Tag. Inzwischen war sogar das Mäuschen bestens informiert. Schließlich schaute es allabendlich gemeinsam mit seinen Lieblingsmenschen die Nachrichten im Fernsehen. Und so wusste Graufellchen, dass kürzlich ein verheerender Sturm über Deutschland hinweg gefegt war, dem die Menschen sogar einen Namen gegeben hatten. Friederike! Eigentlich ein schöner weiblicher Vorname, hinter dem man keinen Orkan vermutet.
Ja und nun schlug das Wetter weitere Kapriolen, weil der Januar nämlich frühlingshafte Temperaturen mit sich brachte, was nicht nur einigen Menschen, sondern auch den Tieren zu schaffen machte. Aber Graufellchen wusste genau, dass der Winter noch nicht vorüber war. Das spürte er instinktiv. Außerdem fühlte er sich so wohl bei den beiden Menschen, dass er noch gar nicht auf das Frühjahr hoffte, denn das würde seinen Auszug mit sich bringen.
Und so nahm Graufellchen seinen gewohnten Platz ein, um ja nichts von den Nachrichten zu verpassen und auch nichts von dem anschließenden Gespräch, das Gerda sofort begann, nachdem sie durch das Betätigen des Aus-Knopfes das Fernsehprogramm für beendet erklärt hatte.
„Weißt du Karl“, sagte sie, „ich frage mich manchmal, ob es wirklich sinnvoll ist, sich ständig die Nachrichten aus aller Welt anzusehen. Das meiste davon ist doch für mich persönlich irrelevant.“
„Manchmal denke ich das auch, Gerda. Auf der anderen Seite: Dürfen wir wirklich die Augen verschließen vor all dem Geschehen in der Welt?“
„Warum eigentlich nicht?“, erwiderte Gerda und es klang ein bisschen provokant. „Vielleicht ist eine im Hier und Jetzt mit meiner Familie verbrachte Zeit viel besser investiert?“
Weil Karl schwieg führte Gerda weiter aus: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass mich all die vielen Nachrichten nicht nur passiv machen, sondern ich ihnen gegenüber abstumpfe.“
Karl stimmte zu: „Das geht mir genau so, Gerda. Du musst dabei eines bedenken: Im Gegensatz zu früher hören und lesen wir viel mehr von all den weltweiten Ereignissen. Und genau an denen können wir persönlich nichts ändern. Es steht einfach nicht in unserer Macht, Dinge, die in Asien oder den Vereinigten Staaten geschehen, zu beeinflussen. Da sind uns die Hände gebunden. Und genau das ist es, was uns passiv macht und den Nachrichten gegenüber abstumpfen lässt.“
„Du hast gewiss recht mit dem, was du sagst, Karl. Ich glaube sogar, dass die Nachrichten es vermögen, Angst zu schüren.“
„Viele Nachrichten wiederholen sich ja auch ständig“, erwiderte Karl, „und meistens wird uns ein negatives Bild von der Welt gezeigt, was natürlich dazu beiträgt, Angst zu schüren.“
„Und nicht nur das. Wenn du so willst, ist eine Meldung ja nicht mehr, als der winzige Funken einer großen Flamme. Die wirklichen Zusammenhänge bleiben für uns doch meistens im Verborgenen.“
„Da ist was dran, Gerda, und außerdem tun wir gut daran, nicht alles ungefiltert zu glauben, was uns erzählt wird“, erwiderte Karl.
„Oh ja! Und das trifft ganz sicher auch auf die Meldungen zu, die wir in einschlägigen Zeitschriften zu lesen bekommen.“
„Da seid ihr Frauen vielleicht sogar noch anfälliger, als wir Männer“, spöttelte Karl.
„Leider ist es so. Aber mal ehrlich, ist es wirklich interessant, dass sich X und Y getrennt haben? Ich kann auch nicht behaupten, dass es mich wirklich interessiert, wie schwer das Baby ist, das demnächst in England geboren wird.“
„Ich glaube, Gerda, dass unser Gehirn einfach überfordert ist mit der Menge an Informationen, die uns heute zur Verfügung stehen. Und um auf die so genannten Promi-News zurückzukommen: Was leisten diese Menschen denn wirklich für unsere Welt und vor allen Dingen frage ich mich, was macht dies mit uns und unseren Kindern, wenn man mit fragwürdigen Dingen Berühmtheit erlangt?“
„Weißt du, Karl, ich denke, so manche allein erziehende Mutter oder berufstätige Hausfrau leistet mehr, als irgendeine dieser Berühmtheiten und noch eines muss man bedenken. Vielleicht ist das mit den Mitteilungen, die uns erreichen auch so ein bisschen wie bei unserem Spiel aus Kindertagen. Wie nannten wir es noch?“, fragte Gerda.
„Du denkst bestimmt an die ‚Stille Post’ nicht wahr?“
„Ja genau. Bei jeder Weitergabe wird etwas dazu geschummelt oder man lässt etwas Wichtiges weg. Schon hat man nichts anderes, als Füllmaterial für eine Zeitschrift, die nun mal wöchentlich erscheinen muss.“
„Fakt ist auch“, entgegnete Karl, „dass wir Lügen besser entlarven, wenn wir dazu die Körpersprache haben. Das fällt beim Lesen einer Meldung natürlich weg.“
„Ich glaube, es besteht noch in anderer Hinsicht eine Gefahr“, äußerte Gerda. „Wenn wir uns nämlich permanent mit dem Leben anderer befassen, müssen wir uns nicht mit uns und unserem eigenen Leben auseinander setzen. Vielleicht ist es meine eigene Langeweile oder Neugier, die mich ständig diese Informationen lesen lässt.“
„Weißt du, Gerda, ich brauche nicht die Schicksalsschläge anderer Menschen, um mich glücklich zu fühlen.“
„Ich auch nicht, Karl. Und außerdem: Wichtige Informationen, die mich und mein Leben betreffen, die werden Wege finden, um mich zu erreichen.“


© Martina Pfannenschmidt, 2018