Mittwoch, 10. Januar 2018

Graufellchen (15) - Verreist

Weil Karl gerade die Wohnung verlassen hatte, flitzte Graufellchen aus seiner Höhle heraus und labte sich an den Krümeln, die unter dem Esstisch liegen geblieben waren.
In den letzten Tagen gab es nicht soviel zu speisen für ihn, was nach dem reichhaltigen Essen an den Weihnachtstagen gar nicht so schlecht war. Sein Bauch zeigte wieder eine normale Größe und so passte das Mäuschen wieder bequem durch jede kleine Ritze.
Allerdings war ihm auch ein bisschen arg langweilig gewesen in der letzten Zeit und das lag daran, dass Gerda für ein paar Tage ihre Schwester und ihren Schwager besuchte. Karl war zuhause geblieben, um seine schlimme Erkältung auszukurieren.
Graufellchen war ganz froh darum, sonst hätte er einige Tage lang vielleicht gar nichts in den Bauch bekommen. Karl war in dieser Hinsicht zwar nicht so großzügig, wie Gerda, doch unter dem Tisch hatte das Mäuschen immer etwas gefunden.
Nur an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Das nächtliche Husten hatte Graufellchen bis in seine Höhle hinein gehört. Gerda hätte ganz bestimmt kein Auge zu bekommen, wenn sie zuhause gewesen wäre.
Inzwischen ging es Karl jedoch besser. Das merkte man auch daran, dass er wieder in seiner Werkstatt werkelte. - Ja und heute war der Tag, an dem Gerda zurückkam. Graufellchen freute sich schon darauf.
Manchmal hätte er sich sogar gewünscht, dass Karl Selbstgespräche führte. Doch außer den täglichen Telefonaten mit seiner Frau hatte dieser kaum gesprochen. Bei seiner heiseren Stimme war das sicher besser.
Als die Haustür ins Schloss fiel, machte sich Graufellchen zügig auf den Weg zurück in seine Höhle.
„Meine Güte, Gerda, was hast du nur alles mitgeschleppt. Dein Koffer scheint ja noch voller zu sein, als auf dem Hinweg.“
„Ach, Karl, das scheint nur so. Stell ihn doch bitte ins Bad. Ich werde gleich mal eine Maschine Wäsche anstellen und dann erzählst du mir, wie es dir ergangen ist.“
„Erzähl du lieber, Gerda. Du hast gewiss mehr erlebt. Soll ich uns eine Tasse Kaffee kochen und wir setzen uns gemütlich an den Tisch und plauschen? Das hat mir in den letzten Tagen schon sehr gefehlt.“
„Mir auch, Karl.“
Nachdem beide den ersten Schluck des heißen Getränkes zu sich genommen hatten, begann Gerda zu erzählen: „Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich freue, wieder bei dir zu sein. Erwin und Helga sind mir wirklich ans Herz gewachsen, aber ich muss gestehen, dass sie schon sehr anstrengend sind.“
Karl nutzte die kleine Pause, die Gerda an dieser Stelle einlegte, um auch seinerseits zu bekunden, dass sie ihm gefehlt hatte.
„Danke, Karl!“, erwiderte Gerda daraufhin und fügte an: „Weißt du, was mich am meisten bedrückt? Dass Helga sich selbst quält!“
„Wie meinst du das?“
„Sie ist so schrecklich negativ eingestellt. Ich habe den Eindruck, dass sie sich allein mit ihren Gedanken das Leben schwer macht. Was ist, wenn, fragt sie sich ständig und malt alles in den dunkelsten Farben.“
„Da ist sie nicht die Einzige, Gerda.“
„Ja, ich weiß. Leider ist es so. Und noch etwas beherrscht sie großartig, nämlich die Verantwortung für sich auf andere oder ‚die Umstände’ zu schieben. Das mag ich gar nicht, Karl.“
„Das weiß ich, Gerda.“
„Ja und nicht zu vergessen, die Erinnerungen an früher. Die schlimmen Erinnerungen, musst du wissen. Damals, hat der dies gesagt und mir das angetan. Ich habe ihr so oft gesagt, dass sie doch das alles einmal loslassen und in Frieden gehen lassen soll. Aber es scheint ihr nicht möglich.“
„Es hat den Anschein“, warf Karl ein, „dass Helga noch nicht erkannt hat, dass sie sich mit lieblosen Gedanken nur selber schadet. Es würde ihr sicher gut tun, mal auf ihre Gedanken zu achten und auch, zu schauen, welche Probleme sie dadurch hervorruft.“
„Genau das habe ich ihr gesagt und versucht, ihre Gedanken in hellere Richtungen zu lenken. Ich habe versucht, ihr klar zu machen, dass dort, wo Schatten ist, auch immer Licht sein muss.“
„Und, konnte sie das annehmen?“
„Nein, leider nicht.“
„Schade!“
„Ja, das finde ich auch. Aber sie möchte einfach nichts verändern, nicht einmal ihre Gedanken. Da kann man nichts machen. Ja und dann macht sie sich auch noch selbst schlecht. Anstatt das Gute an sich zu sehen, sieht sie auch hier nur alles scheinbar Schlechte. Sie hat doch so wundervolles Haar und so schöne Augen. Das sieht sie aber nicht, sondern nur, dass die Haare grau werden und sich Krähenfüße um ihre Augen bilden.“
„Ach herrje. Das ist auch eine Gabe, alles schlecht zu machen.“
„Es hat wirklich den Anschein, Karl. Es fehlt den beiden auch jegliche Motivation, um von der Couch aufzustehen und ins Handeln zu kommen. Ich hab wirklich mein Bestes gegeben, hab sie angespornt, Vorschläge unterbreitet. Zumindest haben wir gemeinsame Spaziergänge unternommen und Spiele gemacht, ja und einmal bin ich mit Helga in die Stadt gefahren. Sie wollte sich einen neuen Pullover und eine Hose kaufen. Doch sie konnte sich einfach nicht entscheiden. Überall hat sie etwas zurückhängen lassen und letzten Endes nichts davon gekauft.“
„Aber, meine liebe Gerda, wie ich dich kenne, hast du im Gegensatz zu deiner Schwester etwas gefunden, nicht wahr.“
Gerda sprang auf, rannte aus dem Raum und kam kurz darauf mit ihrem neuen Pulli freudestrahlend zurück.
„Sag selbst, der ist doch wirklich chic“.
„… und wie für dich gemacht, meine Liebe!“


© Martina Pfannenschmidt, 2018