Sonntag, 7. Januar 2018

Graufellchen (14) – Empathie

Graufellchen lag auf seinem Bett und dachte darüber nach, wie gut er es bei den beiden Menschen hatte. Okay, er konnte von seinem Bett aus nicht die Sterne sehen, aber sonst war sein jetziges Leben einfach perfekt.
Das Mäuschen sann darüber nach, ob es über seine Lieblingsmenschen vielleicht ein Buch schreiben sollte. Schließlich notierte er all ihre Gedanken und Gespräche. Gleichzeitig fragte es sich jedoch, ob seine Artgenossen daran überhaupt Interesse hätten. Oder würde ihm vielleicht sogar Neid entgegen schlagen, wenn andere Mäuse von seinem herrlichen Leben erführen? Das konnte es schwer einschätzen.
Graufellchen nahm sein Notizbuch zur Hand und blätterte darin. Er hatte schon viele Stichpunkte gemacht, so dass es für ein dünnes Büchlein reichen müsste. Aber er blieb ja noch den ganzen Winter über bei den beiden. So kämen bestimmt noch viel mehr Eintragungen bis zum nächsten Frühjahr hinzu.
Aber dann wollte er in jedem Fall zunächst eine Familie gründen und kein Buch schreiben. Am besten wäre es demnach, diese Wintermonate dafür zu nutzen. Ob er gleich damit beginnen sollte?
Er wusste ja aus eigener Erfahrung, dass es nicht förderlich ist, Dinge vor sich her zu schieben. Das Mäuschen erinnerte sich in diesem Zusammenhang an einen Satz seines Großvaters: ‚Graufellchen’, hatte er gesagt, ‚glaube mir, nichts kostet dich mehr Kraft, als Dinge immer wieder vor dir her zu schieben.’
Doch wann sollte er das Buch schreiben? Die beiden Menschen unterhielten sich doch ständig und so war Graufellchen mit all den Aufzeichnungen schon derart beschäftigt, dass er sich momentan außerstande sah, daraus ein Buch zu machen. Aber vielleicht, eines Tages, wenn es wieder einmal Winter wurde und er ein alter Mann wäre, vielleicht hätte er dann dafür Zeit und Muße.
Jetzt galt es jedoch, den beiden Menschen zuzuhören, da Karl in diesem Moment sein Buch auf den kleinen Tisch neben sich legte und eine Frage an seine Frau richtete: „Ist es nicht eigenartig, dass manche Wörter einfach von der Bildfläche verschwinden und gegen moderne ausgetauscht werden?“
„An welches Wort denkst du?“
„Ich denke an das Wort Barmherzigkeit. Keine Ahnung, seit wann man es nicht mehr benutzt. Ich kann wirklich nicht sagen, wann es mir das letzte Mal begegnet ist. Auch in diesem Buch ist stattdessen von Empathie die Rede. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es keine bessere Bezeichnung für Barmherzigkeit ist.“
„Da bin ich ganz deiner Meinung. Als mir das Wort Empathie das erste Mal begegnete, konnte ich gar nichts damit anfangen. Barmherzigkeit oder Einfühlungsvermögen sind hingegen Wörter, die ich verstehe.“
Karl nickte: „Ging mir genau so, Gerda!“
„Aber egal, wie auch immer man sagt, irgendwie wünschen wir uns wohl alle Menschen an unserer Seite, die Verständnis für uns zeigen. Und gerade in Zeiten, in denen es uns nicht so gut geht, sehnen wir uns nach Personen, die uns zuhören, verstehen und uns in ihre Arme schließen.“
„Ich glaube auch, dass sich das jeder wünscht, Gerda. Doch manchmal habe ich den Eindruck, dass einigen Menschen für diese Gabe die Zeit fehlt.“
„Ich finde es interessant, dass du ‚Gabe’ sagst, Karl. Es ist nämlich tatsächlich so, dass es eine Gabe ist. In der Tat gibt es Menschen, die Empathie nicht empfinden können.“
„Wenn es so ist, Gerda, müsste sich Empathie aber erlernen lassen. Andererseits kann ich die Menschen durchaus verstehen, die bei schlechten Nachrichten wegschauen oder auf einen anderen Sender schalten.“
„Das kann ich auch verstehen, Karl. Irgendwie hat man den Eindruck, dass es zu viel Leid ist, das uns begegnet. Man hat oft das Gefühl, all dem nicht mehr gewachsen zu sein und einfach nicht überall helfend eingreifen zu können.“
„Genau das ist der Punkt, Gerda. Wir Menschen reagieren nämlich eher auf Einzelschicksale, als auf Schicksale, die ganze Gruppen betreffen. Also ich meine, wenn Hungersnöte ausbrechen, Kriege oder bei Erdbeben.“
„Das wusste ich gar nicht, Karl. Doch wenn ich darüber nachdenke, kann ich es mir gut vorstellen. Manchmal kann man durchaus den Eindruck haben, dass wir Menschen zum Beispiel auf das Schicksal eines einzelnen Tieres mehr reagieren, als auf die furchtbare Massentierhaltung.“
Karl stimmte dem zu und meinte: „Empathie setzt nun einmal voraus, dass man sich die Mühe macht, sich in andere Lebewesen hinein zu versetzen. Das kostet natürlich ein bisschen Zeit und Mühe. Und wenn sich das Leben nur um dich selbst dreht, bleibt keine Zeit für andere Menschen oder die Tiere. Doch wenn ich von anderen Empathie erwarte, muss ich auch bereit sein, selbst so zu handeln.“
„Stell dir nur einmal vor, wenn es wirklich jedem Menschen gelingen würde, zumindest den Lebewesen Empathie entgegen zu bringen, die sich in seinem nächsten Umfeld befinden. Ich glaube, dann hätten wir schon viel getan, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Oder denkst du nicht?“
Graufellchen nickte kräftig und schrieb in sein Notizbuch: „Empathie macht die Welt ein kleines bisschen besser.“

© Martina Pfannenschmidt, 2018