Graufellchen
lag auf seinem Bett und dachte darüber nach, wie gut er es bei den beiden
Menschen hatte. Okay, er konnte von seinem Bett aus nicht die Sterne sehen,
aber sonst war sein jetziges Leben einfach perfekt.
Das
Mäuschen sann darüber nach, ob es über seine Lieblingsmenschen vielleicht ein
Buch schreiben sollte. Schließlich notierte er all ihre Gedanken und Gespräche.
Gleichzeitig fragte es sich jedoch, ob seine Artgenossen daran überhaupt
Interesse hätten. Oder würde ihm vielleicht sogar Neid entgegen schlagen, wenn
andere Mäuse von seinem herrlichen Leben erführen? Das konnte es schwer
einschätzen.
Graufellchen
nahm sein Notizbuch zur Hand und blätterte darin. Er hatte schon viele Stichpunkte
gemacht, so dass es für ein dünnes Büchlein reichen müsste. Aber er blieb ja
noch den ganzen Winter über bei den beiden. So kämen bestimmt noch viel mehr
Eintragungen bis zum nächsten Frühjahr hinzu.
Aber
dann wollte er in jedem Fall zunächst eine Familie gründen und kein Buch schreiben.
Am besten wäre es demnach, diese Wintermonate dafür zu nutzen. Ob er gleich
damit beginnen sollte?
Er
wusste ja aus eigener Erfahrung, dass es nicht förderlich ist, Dinge vor sich
her zu schieben. Das Mäuschen erinnerte sich in diesem Zusammenhang an einen
Satz seines Großvaters: ‚Graufellchen’, hatte er gesagt, ‚glaube mir, nichts
kostet dich mehr Kraft, als Dinge immer wieder vor dir her zu schieben.’
Doch
wann sollte er das Buch schreiben? Die beiden Menschen unterhielten sich doch
ständig und so war Graufellchen mit all den Aufzeichnungen schon derart
beschäftigt, dass er sich momentan außerstande sah, daraus ein Buch zu machen.
Aber vielleicht, eines Tages, wenn es wieder einmal Winter wurde und er ein
alter Mann wäre, vielleicht hätte er dann dafür Zeit und Muße.
Jetzt
galt es jedoch, den beiden Menschen zuzuhören, da Karl in diesem Moment sein Buch
auf den kleinen Tisch neben sich legte und eine Frage an seine Frau richtete:
„Ist es nicht eigenartig, dass manche Wörter einfach von der Bildfläche
verschwinden und gegen moderne ausgetauscht werden?“
„An
welches Wort denkst du?“
„Ich
denke an das Wort Barmherzigkeit. Keine Ahnung, seit wann man es nicht mehr
benutzt. Ich kann wirklich nicht sagen, wann es mir das letzte Mal begegnet
ist. Auch in diesem Buch ist stattdessen von Empathie die Rede. Allerdings habe
ich den Eindruck, dass es keine bessere Bezeichnung für Barmherzigkeit ist.“
„Da
bin ich ganz deiner Meinung. Als mir das Wort Empathie das erste Mal begegnete,
konnte ich gar nichts damit anfangen. Barmherzigkeit oder Einfühlungsvermögen
sind hingegen Wörter, die ich verstehe.“
Karl
nickte: „Ging mir genau so, Gerda!“
„Aber
egal, wie auch immer man sagt, irgendwie wünschen wir uns wohl alle Menschen an
unserer Seite, die Verständnis für uns zeigen. Und gerade in Zeiten, in denen
es uns nicht so gut geht, sehnen wir uns nach Personen, die uns zuhören,
verstehen und uns in ihre Arme schließen.“
„Ich
glaube auch, dass sich das jeder wünscht, Gerda. Doch manchmal habe ich den
Eindruck, dass einigen Menschen für diese Gabe die Zeit fehlt.“
„Ich
finde es interessant, dass du ‚Gabe’ sagst, Karl. Es ist nämlich tatsächlich
so, dass es eine Gabe ist. In der Tat gibt es Menschen, die Empathie nicht
empfinden können.“
„Wenn
es so ist, Gerda, müsste sich Empathie aber erlernen lassen. Andererseits kann
ich die Menschen durchaus verstehen, die bei schlechten Nachrichten wegschauen
oder auf einen anderen Sender schalten.“
„Das
kann ich auch verstehen, Karl. Irgendwie hat man den Eindruck, dass es zu viel
Leid ist, das uns begegnet. Man hat oft das Gefühl, all dem nicht mehr gewachsen
zu sein und einfach nicht überall helfend eingreifen zu können.“
„Genau
das ist der Punkt, Gerda. Wir Menschen reagieren nämlich eher auf
Einzelschicksale, als auf Schicksale, die ganze Gruppen betreffen. Also ich
meine, wenn Hungersnöte ausbrechen, Kriege oder bei Erdbeben.“
„Das
wusste ich gar nicht, Karl. Doch wenn ich darüber nachdenke, kann ich es mir
gut vorstellen. Manchmal kann man durchaus den Eindruck haben, dass wir Menschen
zum Beispiel auf das Schicksal eines einzelnen Tieres mehr reagieren, als auf
die furchtbare Massentierhaltung.“
Karl
stimmte dem zu und meinte: „Empathie setzt nun einmal voraus, dass man sich die
Mühe macht, sich in andere Lebewesen hinein zu versetzen. Das kostet natürlich
ein bisschen Zeit und Mühe. Und wenn sich das Leben nur um dich selbst dreht,
bleibt keine Zeit für andere Menschen oder die Tiere. Doch wenn ich von anderen
Empathie erwarte, muss ich auch bereit sein, selbst so zu handeln.“
„Stell
dir nur einmal vor, wenn es wirklich jedem Menschen gelingen würde, zumindest
den Lebewesen Empathie entgegen zu bringen, die sich in seinem nächsten Umfeld
befinden. Ich glaube, dann hätten wir schon viel getan, um die Welt ein kleines
bisschen besser zu machen. Oder denkst du nicht?“
Graufellchen
nickte kräftig und schrieb in sein Notizbuch: „Empathie macht die Welt ein
kleines bisschen besser.“
©
Martina Pfannenschmidt, 2018