Freitag, 5. Januar 2018

Graufellchen (13) – Aufräumen

An diesem Vormittag war etwas Eigenartiges geschehen. Graufellchen war vor seine Höhle getreten, wie er es immer tat, wenn die beiden Menschen nicht zuhause waren, doch dann wäre er fast über etwas gestolpert.
Ein bisschen mulmig war dem Mäuschen in diesem Moment schon zumute gewesen. Konnte Gerda vielleicht Gedanken lesen oder gar hellsehen?
Das war nämlich so: Als er an diesem Morgen erwacht war, hatte er sich in seiner kleinen Wohnung umgesehen und gemeint, dass es mal wieder Zeit würde, durchzufegen. Doch leider befand sich kein Besen in Graufellchens Bündel. Man konnte ja auch nicht an alles denken. Ja und nun wäre er fast über einen solchen gestolpert. Also, ein richtiger Besen war es nicht, sondern eine alte von Gerda ausrangierte Zahnbürste lag direkt neben dem Eingang zu seiner Höhle.
Die Frau des Hauses hatte die Bürste ordentlich gereinigt und den Stiel gekürzt, damit der improvisierte Besen eine für Mäuseverhältnisse passende Größe hatte. Das war ihr ziemlich gut gelungen, so dass Graufellchen sofort mit den Reinigungsarbeiten begonnen hatte.
Jetzt blitzte und blinkte es wieder in seiner Wohnung. Das kleine Häufchen Staub, das jetzt vor seiner Höhle lag, würde Gerda gewiss mit ihrer Höllenmaschine entfernen. Graufellchen fühlte sich wieder so richtig wohl in seinem Zuhause.
Doch diese Putzwut, die ihn direkt zu Beginn des neuen Jahres überfallen hatte, schien nicht nur ihn zu betreffen, sondern auch Gerda, die kurz nach ihrem Heimkommen die Schranktüren geöffnet hatte, um die Schränke auszuwischen. Dabei blieb es allerdings nicht, wie Graufellchen der Unterhaltung entnehmen konnte.
„Ach nein, Schatz, geht es schon wieder los?“, fragte Karl und seiner Stimme war ein bisschen Unverständnis für Gerdas Tun anzumerken.
„Ja, es muss sein. Ich weiß, dass es dir ein bisschen auf die Nerven geht, dass ich zu Beginn eines neuen Jahres immer aufräume und Dinge entsorge. Aber was sein muss, muss sein.“
„Also für mich muss es nicht sein. Du hast doch in all den Jahren schon so viel weggeschmissen. Manches hätte man vielleicht noch einmal gebrauchen können.“
„Ja, genau, Karl, vielleicht. Deshalb stehen auch zwei Kartons hinter mir. In den linken legen wir die Dinge, von denen wir sicher sind, dass sie auf jeden Fall weg sollen und in den rechten kommen die, von denen wir denken, dass wir sie vielleicht noch einmal nutzen. Und wenn wir sie in diesem Jahr kein einziges Mal vermisst haben, wird der Karton im kommenden Jahr entsorgt, und zwar, ohne dass wir noch einmal hinein schauen.“
„Da du ja sowieso keine Ruhe gibst, lass ich mich auf diesen Deal ein“, scherzte Karl und hielt seiner Frau seine Hand hin, die daraufhin abklatschte.
Graufellchen beobachtete diese Szene schmunzelnd.
„Schau nur, Gerda, diese Vase dürfen wir auf keinen Fall wegschmeißen. Sie ist noch von meiner Tante Agnes. Es war ihre Lieblingsvase musst du wissen.“
„Ihre Lieblingsvase mag es gewesen sein“, entgegnete Gerda, „aber nicht meine und deshalb kommt sie in den linken Karton.“
„Nein, Gerda. Das geht auf gar keinen Fall. Also wenn überhaupt, dann kommt sie in den rechten Karton.“
„Gut, wenn du meinst.“
Zwei Stunden später:
„Karl, schau mal bitte in unsere Kartons. Wenn wir in diesem Tempo weiter machen, sind wir Ostern noch nicht fertig.“
„Ach Gerda, du weißt doch, wie schwer es mir fällt, mich von Dingen zu trennen.“
„Natürlich weiß ich das. Deshalb gibt es ja auch den rechten Karton. Aber weißt du, ich bin einfach sicher, dass uns all die Dinge irgendwie belasten.“
„Gerda, nun übertreibst du aber.“
„Nein, ich meine es schon ernst. Gut, ich gebe zu, dass wir es bewusst sicher nicht bemerken, aber vielleicht unbewusst. Alles gibt Energie ab, Karl, die uns wiederum umgibt. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal gelesen habe: Behalte nur die Dinge, die dich glücklich machen und trenne dich in Dankbarkeit von allem anderen und entsorge es.“
Fast hatte es den Anschein, als würde Karl etwas vor sich hin murmeln. Verstehen konnte Graufellchen es allerdings nicht.
Eine Weile später fing Gerda ein weiteres brisantes Thema an.
„Du Karl, dieses Bild hier an der Wand …“
„… war ein Geschenk meiner Mutter“, setzte Karl den begonnen Satz fort.
„Ja, war ein Geschenk deiner Mutter“, wiederholte Gerda und fuhr mutig fort, „aber es versetzt mich jedes Mal in eine komische Stimmung.“
„Aber Geschenke wirft man nicht weg!“, warf Karl ein.
„Sagt wer?“
Keine Antwort.
„Weißt du Karl, es kann doch nicht sein, dass man sich in seinem eigenen Zuhause nicht wohl fühlt, nur weil man der Meinung ist, geschenkte Dinge dürfe man auch nach zehn oder zwanzig Jahren noch nicht entsorgen.“
„Heute scheint alles schnell austauschbar zu sein“, erwiderte Karl pampig.
„Ja, vielleicht ist es so. Wenn ich zum Beispiel an Schmuckstücke denke, stimme ich dir zu. Früher hatten Schmuckstücke einen ganz anderen Wert, als heute. Von dem emotionalen einmal ganz angesehen. Heute ist Schmuck erschwinglich und kann schnell mal gegen neuen ausgetauscht werden. Das gilt sicher auch für Geschirr, Handtücher und Bettwäsche.“
„Masse anstelle von Qualität“, warf Karl maulend ein.
„Auch damit magst du Recht haben. Aber schau, welchen Sinn hat es, dass ich all die Bettbezüge noch im Schrank horte, nur weil ich sie einst zur Konfirmation geschenkt bekam. Inzwischen gibt es die schöne Biberbettwäsche, die du auch so magst. Darin schlafen wir doch viel besser, jetzt im Winter.“
„Aber im Sommer mag ich die weiße Leinenbettwäsche am liebsten.“
„Ja Karl, die werde ich auch nicht aussortieren. Aber was sollen wir mit all den anderen anfangen? Und ganz ehrlich: Ich freue mich auch, wenn ich mal wieder neue kaufen darf.“
Für eine Weile schwieg Karl, doch dann erkundigte er sich vorsichtshalber, um nicht Gefahr zu laufen, seine Frau falsch verstanden zu haben: „Du meinst also, wir sollen nur die Dinge behalten, die Freude bei uns auslösen?“
Gerda nickte bestätigend.
Am Abend traute Graufellchen seinen Augen kaum. Gerda tanzte mit weit ausgebreiteten Armen durch das Zimmer.
„Ich kann mir nicht helfen, Karl“, rief sie dabei aus, „aber irgendwie fühle ich mich wie befreit!“

© Martina Pfannenschmidt, 2018