Dienstag, 12. Dezember 2017

Graufellchen (6) – Wenn dies nicht mehr mein Leben ist

Inzwischen wohnte Graufellchen schon einige Tage bei Gerda und Karl zur Untermiete und noch niemals zuvor in seinem Leben hatte er sich so zufrieden und glücklich gefühlt. Das lag ganz sicher daran, dass er inzwischen wusste, dass er keinerlei Angst zu haben brauchte. Bei den beiden war er einfach in Sicherheit. Zumindest dachte er das bis zu diesem Moment.
Das Mäuschen beobachtete die Frau des Hauses bei einem eigenwilligen Tun. Sie hatte ein Tuch in der Hand und wischte damit über Gegenstände. Die Menschen machen schon komische Sachen, ging es Graufellchen durch den Kopf. Als Gerda diese Arbeit erledigt hatte, holte sie ein für Mäuse-Verhältnisse riesiges Gerät aus einem Schrank. Das allein konnte einer Maus schon Angst machen. Doch als Gerda das Gerät an die Steckdose anschloss, begann Graufellchen zu zittern. Schnell schnappte er all sein Hab und Gut und quetschte sich in eine Ecke seiner Höhle. Sogar sein Wollmaus-Bett raffte er zusammen und legte sich auf die dicke Wollmaus-Kugel. Er schloss die Augen, als Gerda mit dem Gerät an der Fußleiste, hinter der seine Höhle lag, entlang rauschte und hatte dabei das Gefühl, wie von einem Sog angezogen zu werden. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen. Bald darauf war es wieder still in der Wohnung. Was um Himmels Willen, war das? - Mit bis zum Hals klopfendem Herzen traute er sich Richtung Höhlen-Ausgang.
„Ich hab nur grad noch durchgesaugt“, ließ Gerda ihren Mann wissen. „Jetzt mach ich mich auf den Weg ins Altenheim. Du weißt, dass sie dort heute auf mich warten.“
„Geh nur“, erwiderte Karl und setzte sich mit einem Buch in seinen gemütlichen Sessel.
„Durchgesaugt!“, dachte das Mäuschen, „das muss ich mir merken. Wenn Gerda das Gerät noch einmal benutzt, muss ich auf der Hut sein.“
Ein Staubsauger, so wusste Graufellchen jetzt, war eine Bedrohung für ihn und nicht nur das: Kein einziges Krümelchen ließ dieses Monstrum zurück. Nein, mit einem Staubsauger würde er niemals Freundschaft schließen.
Da Karl weiterhin in seinem Sessel sitzen blieb, war es Graufellchen nicht möglich, seine morgendliche Runde durch die Wohnung zu machen. Aber ein bisschen Bewegung war auch in der Höhle möglich. Also machte er ein paar Kniebeugen, holte zwei Körner, die er stets als eisernen Vorrat in seinem Bündel mit sich führte, heraus, und nutzte diese als Hanteln. Nach einiger Zeit standen ihm die Schweißperlen auf der Stirn. Das war das Zeichen, dass er sich nun wieder ein bisschen ausruhen durfte.
Graufellchen musste schmunzeln, weil Gerda, als die den Flur betrat, rief: „Ich bin zurück, Karl!“
Schon am Morgen hatte er es lustig gefunden, dass sie Karl kundgetan hatte, durchgesaugt zu haben; so als hätte er dies überhören können. Vielleicht war das so etwas wie eine Marotte von ihr.
Das Mäuschen mochte Gerda sehr und wusste genau, dass sie jetzt ganz gewiss wieder etwas zu erzählen hätte.
Bald darauf kam Gerda mit einem Teller, auf dem zwei Orangen lagen, in den Wohnraum. Sie nahm in dem anderen Sessel Platz und begann, eine Orange zu schälen.
Nicht nur Graufellchen fiel auf, dass sie schwieg, sondern auch Karl: „Was ist los mit dir?“, fragte er erstaunt. „So kenne ich dich gar nicht. Meistens bringst du doch eine Geschichte aus dem Altenheim mit.“
„Auch heute, Karl, auch heute bringe ich eine Geschichte mit. Allerdings muss ich sagen, dass mich das Gespräch mit Fritz sehr berührt hat. Es klingt noch nach, möchte ich sagen.“
„Magst du mir davon erzählen.“
„Gewiss, Karl! Lass mir nur ein paar Minütchen.“
Nachdem die beiden schweigend die Orangen verzehrt hatten, begann Gerda von dem morgendlichen Gespräch zu erzählen: „Der Fritz hat mir aus seiner Zeit als Kind erzählt. Wie es war, in einem kleinen Dorf aufzuwachsen. Sie spielten auf der Straße, weil es kaum Autos gab. Das kennen wir ja auch, nicht wahr. - Reich war seine Familie damals nicht, aber glücklich. Doch dann veränderte sich sein sorgloses Leben von heute auf morgen, als der Vater verunglückte und verstarb. Plötzlich war nichts mehr wie es vorher gewesen war und Fritz sagte den Satz: Mein Leben war nicht mehr mein Leben.“
„Oh ja, wie oft verändert sich eine Lebenssituation im Laufe eines Lebens. Oftmals wird es einem erst in der Rückschau bewusst.“
„Das war auch bei Fritz so. Immer wenn er dachte: Das ist jetzt mein Leben, kam das so genannte Schicksal dazwischen und es kam immer knüppeldick für ihn. Seine Mutter lernte zum Beispiel einen neuen Mann kennen, der dann sein Vater wurde. Doch der war nicht gut zu ihm. Oft bekam Fritz seine Wut zu spüren. Dieser Mann war dem Alkohol sehr zugetan, gab viel Geld für Schnaps und dergleichen aus, so dass es manchmal kaum zum Überleben reichte. Und als ich dachte, noch schlimmer kann es nicht kommen, erzählte Fritz, dass er von Nachbarn ein paar Winterschuhe geschenkt bekommen hatte, weil er nur ein paar Sandalen an den Füßen trug und für neue Schuhe kein Geld da war. Da hat der Stiefvater ihm die Schuhe abgenommen und verkauft – für eine Flasche Schnaps.“
Karl seufzte auf: „O mein Gott!“
„Das Leben hat es wirklich nicht gut mit ihm gemeint“, sagte Gerda mit belegter Stimme.
„Und jetzt denkst du, wie viel Glück wir in unserem Leben hatten. Und ob wir das überhaupt verdient haben. Ist es so?“
Gerda nickte. „Ja, genau das sind meine Gedanken. Wir können gar nicht dankbar genug für unser Leben sein, Karl. Wir hatten eine schöne Kindheit, ein glückliches Leben, sind gesund, haben finanziell keine Sorgen und wir haben uns.“
„Ja, wir haben uns und das ist ein ganz wertvolles Gut, das wir ja auch zu schätzen wissen.“
„Doch eines Tages wird dieses Leben auch nicht mehr unser Leben sein, nicht wahr.“
Karl nickte. „Lass uns nicht darüber nachdenken, was kommen wird, sondern den Augenblick genießen, denn das ist im Moment unser Leben.“
„Du hast recht. Das sollten wir tun. Doch über die Frage, die mir Fritz stellte, als er zum Essen abgeholt wurde, werde ich noch eine Weile grübeln.“
„Welche Frage, Gerda?“
„Was wird sein“, fragte er mich, „wenn auch dieses Leben nicht mehr mein Leben sein wird?“


© Martina Pfannenschmidt, 2017