Freitag, 10. November 2017

Zeiten ändern sich

Annika öffnete die Wohnzimmertür, aber nur einen kleinen Spalt breit: „Schatz ich geh noch ein bisschen vor die Tür, vielleicht in den Park oder bei Giovanni ein Eis essen. Ist das okay?“
„Ja klar, wenn es für dich in Ordnung ist, dass ich nicht mitkomme und noch weiter schaue.“
„Klar“, erwiderte sie und schloss die Tür. Annika wusste, dass Björn sogar die Tour de France für sie hätte sausen lassen, obwohl ihn gerade der Radsport sehr interessierte, doch das erwartete sie gar nicht. Sie war auch ganz gerne mal alleine, um ihren Gedanken nachzuhängen und neue Kräfte zu sammeln.
Dazu ging sie oft in den Park und setzte sich in die Nähe eines alten Baumes, um sich von seiner Kraft ein bisschen für sich abzuzwacken.
Manchmal beobachtete sie dabei ihre Umgebung. So nahm sie ein Paar mit weißem Haar wahr, das auf einer Bank saß und sich ganz offensichtlich auch ohne Worte verstand. Neben ihnen tobten zwei Hunde und erweckten den Anschein, als würden sie miteinander ringen.
Ein sehr ungleiches Paar ging an Annika vorüber. Der Mann war sehr elegant gekleidet, trug einen edlen Anzug mit Weste und Krawatte. Seine Schuhe glänzten und funkelten mit der Sonne um die Wette. In jeder Hand hielt er einen Becher Kaffee. Die Kleidung der jungen Frau neben ihm entsprach dem krassen Gegenteil und es hatte den Anschein, als hätten ihre Haare seit langem weder Shampoo noch Kamm gesehen. Die beiden wollten augenscheinlich so gar nicht zueinander passen. Gerade, als sie an Annika vorüber gingen, hielt der Mann der jungen Frau einen Becher Kaffee hin. Die Reaktion darauf war krass: „Ich trinke diese Katzenpisse nicht!“
„Jaqueline!“, war das einzige, was der Mann daraufhin antwortete. Resigniert ließ er den Kopf hängen. Ob es sich bei der jungen Frau um seine Tochter handelte? Dies würde Annika wohl niemals erfahren.
Aus der anderen Richtung kam ein Junge auf einem Rad daher. Sein Vater lief die ganze Zeit neben ihm her und hielt das Rad fest. Bei dieser Haltung würde er sicher bald Rückenschmerzen verspüren. Annika gingen Bilder aus ihrer eigenen Kindheit durch den Kopf. Auch ihr Vater hatte das Rad gehalten, als sie die ersten Versuche machte, das Radfahren ohne Stützräder zu erlernen. Sie wusste noch, dass sie sich irgendwann umgedreht und ungläubig geschaut hatte, als sie bemerkte, dass sie alleine fuhr. Prompt war sie samt Rad umgefallen. Die kleine Schürfwunde, die sie sich dabei zugezogen hatte, war inzwischen allerdings verheilt.
Annika blieb nachdenklich. Ja, ihre kleine Wunde war schnell verheilt, doch als Pädagogin wusste sie nur zu gut, dass vielen Kindern schlimme Verletzungen zugefügt werden. Keine, bei denen Blut fließt und auch keine, die einen blauen Fleck hinterlassen, sondern Wunden, die unsichtbar bleiben, doch die Seele des Kindes verletzen. Wie oft werden Kindern verbale Verletzungen zugefügt. Seelische Misshandlungen zeigen viele Gesichter. Für Annika war es unfassbar, wozu Eltern in der Lage sind. Offensichtliche Ablehnung und ständige Kritik zum Beispiel oder Drohungen, die ausgesprochen werden, um Kinder zu ängstigen und einzuschüchtern. Sie hatte selbst einmal erlebt, dass einem Kind völlig der Kontakt zu anderen Kindern untersagt wurde. Einsamkeit und das Gefühl von Verlassenheit werden dieses Kind bis ins Erwachsenenalter hinein begleiten. Sie konnte nur hoffen, dass es in späteren Jahren professionelle Hilfe fand und auch annahm, um dieses Trauma aus der Kindheit zu verarbeiten.
Annika schloss die Augen und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Bald darauf fiel ein Schatten auf sie und jemand fragte: „Na, junge Frau, heute ganz alleine unterwegs?“
Annika sprang auf und herzte ihre Oma. „Und Sie, meine Dame“, scherzte Annika und sah sich suchend um, „auch alleine?“
Oma nickte und meinte: „Du weißt schon, Radsport.“
Annika nahm ihre Tasche von der Parkbank und hakte sich bei ihrer Oma ein: „Wie wäre es, wenn ich dich jetzt, wo wir uns zufällig treffen, ganz spontan auf ein Eis bei Giovanni einlade?“
„Wie könnte ich deine Einladung ausschlagen!“
Oma ging zwar schon auf die 80 zu, dennoch war sie fit und hielt dem Schritttempo ihrer Enkelin stand.
„Weißt du, Omi, ich habe gerade darüber nachgedacht, dass ich ein Glückskind bin, weil ich eine so tolle Familie habe.“
„Ja, das finde ich auch. Wir haben Glück, dass wir uns haben.“
Nach einer Weile fügte Oma an: „Darf ich dich mal etwas fragen?“
Was jetzt wohl kommt, dachte Annika.
„Was denkst du, werde ich es wohl noch erleben, Uroma zu werden?“
„So fragt man Leute aus“, lachte Annika und fügte an: „Mit dem tollen Mann an meiner Seite sind in jedem Fall Kinder geplant. Ob sich natürlich eine Seele findet, die zu uns kommen möchte, dass müssen wir erst noch abwarten.“
„Das freut mich zu hören“, antwortete Oma und strahlte dabei.
Eine Schar junger Menschen kam ihnen entgegen.
„Ist es blöd, wenn ich jetzt sage: Wie hat sich nur die Zeit gewandelt?“, fragte Oma. Ohne auf eine Antwort zu warten, meinte sie: „Schau nur, alle haben sie ein Handy in der Hand. Ich glaube, die jungen Menschen heute können sich gar nicht mehr miteinander unterhalten.“ Oma lachte auf. „Stell dir nur mal vor, diese Jugendlichen würden in diesem Augenblick in meine Kindheit zurück versetzt. DIE würden Augen machen? Wir hatten nicht einmal ein Telefon im Haus. Zeiten waren das! Undenkbar heute. Wie es wohl sein wird, wenn deine Kinder in dem Alter dieser Jugendlichen sind? Wie man dann wohl miteinander kommuniziert?“
Die beiden fanden einen sonnigen Platz im Eiscafé und bestellten sich einen großen Eisbecher.
Annika dachte darüber nach, wie aufgeschlossen ihre Oma allem Neuen gegenüber war. Deshalb sagte sie: „Ich glaube, wir müssen einfach mit der Zeit gehen, auch im Alter.“
Dem stimmte Oma zu. Bald darauf aßen beide genüsslich ihr Eis und freuten sich über die Zeit, die sie miteinander verbringen durften und auf alles, was das Leben für sie noch bereithalten würde.


© Martina Pfannenschmidt, 2017