Donnerstag, 9. November 2017

Wenn die Gedanken mit den Wolken ziehen

Nachdem Oma und Kathrin den leckeren Milchreis mit Zimt und Zucker verputzt hatten, gingen sie zurück in den Garten. Mama stellte für Oma den Liegestuhl auf.
„Omi, wir wollen gleich ins Hallenbad und ein bisschen schwimmen oder soll ich lieber hier bleiben, damit du nicht einsam bist?“, fragte Kathrin besorgt.
„Nein, mein Kind, natürlich fährst du mit deinen Eltern mit und einsam fühle ich mich sowieso nie.“
„Aber wenn wir alle fort sind, ist doch niemand bei dir und dann ist dir bestimmt langweilig“, gab das Mädchen zu bedenken.
 „Nein, mir ist niemals langweilig und schon gar nicht hier draußen im Garten. Schau Kathrin, siehst du dort die beiden Vögel auf dem Ahorn? Ich werde sie beobachten, wie sie ihr Nest bauen - oder dort der besonders schöne Schmetterling. Vielleicht mag er mir etwas erzählen. Ich könnte auch nach dicken Hummeln Ausschau halten, die hier im Garten unterwegs sind oder ich lasse meine Gedanken wie die Wolken vorüberziehen.“
„Omi, du erzählst jetzt aber Quatsch! Das geht doch gar nicht – Gedanken ziehen lassen“.
„Und ob das geht! Unsere Gedanken kommen und gehen und von Zeit zu Zeit, wenn ich hier in meinem Liegestuhl liege, beobachte ich sie. Woher sie kommen und wohin sie gehen – genauso, wie ich die Wolken am Himmel beobachte. Ab und zu bringen sie mich zurück in meine Kindheit, als ich mit meinem Rad fuhr oder mit Charly, meinem lieben Hund spielte. Gelegentlich denke ich auch an deinen Opa und die schöne Zeit mit ihm. Wie ich neben ihm in unserem alten Auto saß und wir ans Meer fuhren. Ich sehe es förmlich vor mir, höre wie es rauscht und wie die Möwen kreischen. Es ist gerade so, als säße ich auf einer Wolke und zöge mit meinen Gedanken dahin.“
„Das klingt toll - erzähl weiter“, forderte Kathrin ihre Oma auf.
„In meinen Gedanken kann ich alles noch einmal erleben und mich daran erfreuen. Dann sind alle lieben Menschen, die einmal bei mir waren, wieder da. Ich kann sie durch meine Gedanken zum Leben erwecken. Gern denke ich aber auch an die Zeit als deine Mama noch ein Kind war. Ich sehe sie ganz genau vor mir. Sie hatte ein bisschen Ähnlichkeit mit dir. Sie war ein liebes Kind, dass muss ich schon sagen und so manches kommt mir wieder in den Sinn. Gerade gestern, als ich einen Marienkäfer sah, musste ich an diese Zeit zurück denken. Deine Mama kam, als sie drei Jahre alt war, ganz aufgeregt zu mir, zeigte mir den Käfer, der auf ihrer Hand saß und verkündete: ‚Mama schau ein Mandarinenkäfer!’“
Kathrin lachte. „Ein Mandarinenkäfer hat sie gesagt? Lustig!“
„Ja, das fand ich auch. Aber ich habe damals nicht gelacht, sonst wäre sie ja beleidigt gewesen. Ich habe sie ganz vorsichtig berichtigt. Und weil ich mit meinen Gedanken überall dort sein kann, wo ich möchte und alle meine Lieben so stets bei mir sind, bin ich niemals einsam.“
„Omi“, fragte Kathrin nachdenklich, „denkst du manchmal auch an Dinge, die nicht so schön waren?“
„Nein, diese Gedanken lasse ich sogleich fortziehen. Weißt du, jeder Mensch wird in seinem Leben auch unschöne Dinge erleben. Manchmal ärgern wir uns vielleicht über andere Menschen, weil sie etwas gesagt oder getan haben, durch dass wir verletzt wurden. Doch was hilft es, wenn wir immer wieder daran zurück denken, all das Böse quasi noch einmal durchleben und immer noch ärgerlich auf diese Menschen sind? Gar nichts! Im Gegenteil! Uns würde es nur wieder so schlecht gehen wie damals. Ich versuche einfach, diese Gedanken weiterziehen zu lassen, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Weißt du, ich möchte wenn ich eines Tages von dieser Welt gehe, mit niemandem im Streit sein – nicht einmal in meinen Gedanken.“
„Manchmal streite ich mich mit meiner Freundin“, bekannte Kathrin, „aber nie für lange, dann vertragen wir uns wieder. Doch stell dir einmal vor, ihr würde etwas passieren und ich hätte Streit mit ihr gehabt und könnte mich nicht mehr mit ihr versöhnen. Das wäre ganz furchtbar, Omi“.
„Das sehe ich genau so wie du. Wir sollten nie im Streit auseinander gehen. Wir sind alle nur Menschen, die manchmal Fehler machen oder streiten. Auch ich habe Fehler gemacht und andere mit meinen Worten verletzt. Das tut mir sehr leid. Jetzt achte ich sehr auf meine Worte – aber auch auf meine Gedanken. Ich möchte weder schlecht über andere Menschen sprechen, noch schlecht über sie denken.“
Kathrin sagte zunächst nichts. Sie überlegte offensichtlich. Dann fragte sie: „Omi, denkst du ich habe auch schon einmal etwas Schlechtes gesagt oder gedacht?“
„Vielleicht mein Kind. Weißt du, was gesagt oder getan ist, lässt sich nicht mehr verändern und es nützt uns auch gar nichts, wenn wir damit hadern. Wir können es für die Zukunft nur besser machen, nicht wahr?“
In diesem Moment erschien Mama an der Terrassentür und rief: „Kathrin, kommst du, wir wollen jetzt los.
„Du Omi, auf dem Heimweg halten wir bestimmt noch beim Bäcker. Ich habe so doll Lust auf Berliner. Soll ich dir auch einen mitbringen?“
„Oh ja, gerne“, antwortete Oma, „aber einen mit ganz viel Marmelade darin!“

© Martina Pfannenschmidt, 2015