Dienstag, 21. November 2017

Unverhofft

„Oma, kennen wir Töseli?“
Dieser Satz riss Annemarie aus ihren Gedanken.
„Nein, Töseli kenne ich nicht“, antwortete sie ihrer Enkeltochter schmunzelnd.
„Na gut!“
Lena saß am Küchentisch und erledigte ihre Hausaufgaben. Sie musste die Wörter ankreuzen, die sie kennt. Töseli kannte sie nicht. Wenn Oma das Wort auch nicht kannte, handelte es sich offensichtlich um ein erfundenes Wort, das sie nicht ankreuzen durfte.
Annemarie dachte an ihre eigene Schulzeit zurück. Auch wenn sich die Bücher und die Art des Lernens verändert hatten, so gilt es bis heute, den Kindern in der Grundschule das Rechnen und Schreiben beizubringen. Heute geht das im Gegensatz zu früher viel mehr über Bilder. Was sich noch sehr verändert hat, ist der Umgang mit den Lehrern. Nur sehr wenige sind noch eine Respektsperson für die Kinder. Bestenfalls macht den Schülern dadurch das Lernen mehr Freude und sie gehen angstfreier zur Schule.
Wie so oft, so flogen auch in diesem Moment Annemaries Gedanken zu ihrem Bruder, mit dem sie viele Jahre gemeinsam den Weg zur Schule gegangen war. Nun lag es aber bereits Jahrzehnte zurück, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er war damals nach einem Streit mit ihrem Vater gegangen und niemals zurückgekehrt.
Zu Anfang war sie stinksauer auf ihn gewesen. Annemarie wusste noch, dass sie sich immer ausgemalt hatte, dass er plötzlich wieder auftauchen würde. „Entweder falle ich ihm dann um den Hals, oder ich vermöbele ihn.“ So hatte sie sich einmal gegenüber ihrer besten Freundin Inge geäußert, die natürlich wusste, dass das nicht ernst zu nehmen war. 
Wie gut, dass es sie gegeben hatte und immer noch gab. Mit ihr sprach Annemarie viel über ihren Bruder und konnte so den tiefen Schmerz verarbeiten. Zumindest dachte sie das. In letzter Zeit war sie sich da nicht mehr ganz so sicher, denn ihre Gedanken gingen sehr oft zu ihm.
Was wohl aus ihm geworden war? Wie er jetzt wohl aussah? Ob er eine Familie gegründet hatte? So viele Fragen, die ihr niemand beantworten konnte. Schon so oft hatte sie versucht, seine Adresse über das Internet ausfindig zu machen, doch bisher leider ohne Erfolg. Vielleicht lebte ihr Bruder ja auch im Ausland. Er hatte immer den Traum gehabt, einmal nach Amerika zu reisen: „Und dich nehme ich mit!“, hatte er oft gesagt, wenn der Vater wieder einmal betrunken gewesen war und sie sich zusammen ins Bett verkrochen hatten, um seiner Aggression zu entgehen. Leider hatte ihr Bruder sein Versprechen nicht gehalten und sie zurück gelassen.
„Fertig!“, verkündete Lena, „darf ich vor dem Mittagessen noch ein bisschen nach draußen?“
Annemarie nickte und wünschte sich, dass das vor Lebensfreude sprühende Kind es schaffte, ihre trüben Gedanken fortzuschicken.
Sie schaute Lena und Tobi, dem Jungen, der ein Haus weiter wohnte, eine Weile beim Radfahren zu. Und schon wieder passierte es. Annemarie war gedanklich bei ihrem Bruder, mit dem sie einmal in einer selbst gebauten Seifenkiste die Straße hinunter gesaust war. Doch dann hatte sich die Kiste gedreht und sie wurden aus ihren Sitzen geschleudert. Schlimme Schürfwunden waren das Ergebnis gewesen und später noch Schläge vom Vater. Annemarie versuchte, den dicken Kloß, der sich bei diesen Erinnerungen in ihrem Hals bildete, herunter zu schlucken, doch so recht wollte ihr das nicht gelingen.
Im selben Moment begann es vor ihr zu zischen. Verflixt noch mal. Sie hatte Milch auf die Herdplatte gestellt, um für sich und ihr Enkelkind Milchreis zu machen. Jetzt kochte die Milch über und gab beim Aufkommen auf die heiße Herdplatte wütende Geräusche von sich. Annemarie riss den Topf von der Platte. Dass sie dazu besser Topflappen benutzt hätte, wusste sie im selben Moment. Mist, der Topf war ziemlich heiß. Außerdem schwappte dabei noch ein größerer Schwall Milch über den Topfrand und brannte sich stinkend in die Herdplatte ein. Gott sei Dank hatte sie sich bei dieser Aktion keine größeren Verbrennungen zugezogen. Dennoch schimpfte sie über sich und ihre eigene Dummheit wie ein Rohrspatz. Völlig unpassend klingelte in diesem Augenblick das Telefon.
„Ja, Hallo!“, meldete sie sich knapp.
„Hallo, meine Liebe, Inge hier! Du, ich habe gerade mit Margot telefoniert und nun rate mal, was sie Neues wusste?“
„Inge, wie soll ich das wissen und du, im Moment passt es leider grad gar nicht. Mir ist die Milch über gekocht. Ich ruf dich nachher zurück, ja.“
„Nee, lass man. Ich muss auch gleich weg. Nur ganz kurz. Die Margot wusste ….“.
„Inge, jetzt nicht. Erzähl es mir bitte später!“
Abrupt beendete Annemarie das Gespräch, was ihr sogleich leid tat. Das hatte Inge nicht verdient, aber nun war es so. Annemarie würde ihr später alles erklären und sich für ihr Verhalten entschuldigen.
Gerade als sie die Bescherung auf dem Herd beseitigen wollte, erschien ihre Enkeltochter am Küchenfenster: „Oma, ist der Milchreis schon fertig? Ich bekomme jetzt doch ein bisschen Hunger.“
„Leider nicht, mein Schatz. Schau, mir ist die Milch über gekocht. Ich muss den Schaden jetzt zuerst etwas beheben und dann starte ich einen neuen Versuch. Ich mache, so schnell ich kann, versprochen!“, rief sie Lena zu.
"Okay!"
Jetzt klingelte es auch noch an der Haustür. Verflixt, wer konnte das nun wieder sein. Bestimmt der Postbote. Annemarie ging schnellen Schrittes Richtung Haustür. Davor stand jedoch nicht der erwartete Postbote, sondern eine Frau mit langen blonden Haaren. Irgendwie kam sie Annemarie bekannt vor, doch der Groschen wollte nicht sogleich fallen.
„Entschuldigen Sie bitte meinen Überfall!“, meinte die Frau freundlich, „sind sie Annemarie Burmeister?“
„Das ist mein Mädchenname“, erwiderte Annemarie und entdeckte einen Mann mit einer Kamera auf der Schulter, der etwas abseits stand und offensichtlich die Szene an der Haustür filmte.
„Sie haben doch einen Bruder, der Edgar heißt, nicht wahr.“
Annemarie schaute die Frau mit großen Augen an. Dann nickte sie.
„Er würde sehr gerne mit Ihnen in Kontakt treten und hat mich beauftragt, Ihnen eine Videobotschaft zu überbringen. Darf ich vielleicht herein kommen?“

© Martina Pfannenschmidt, 2017